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Archiv-Artikel

Vielleicht kam nur ein „Macht mal was“

TERROR Für Frankreich ist das eine sehr gefährliche Situation, sagt der Terrorismusforscher Peter Neumann. Verbindung der Täter zu al-Qaida im Jemen hält er für gut möglich

Peter Neumann

Der 39-Jährige ist Politikwissenschaftler. Er ist seit 2008 Gründungsdirektor des International Center for the Study of Radicalisation am King’s College in London. Er berät Regierungen und die Vereinten Nationen. Er stammt ursprünglich aus Würzburg, er hat unter anderem an der Freien Universität in Berlin studiert.

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Herr Neumann, wie deuteten Sie als Terrorforscher den Anschlag auf Charlie Hebdo?

Peter Neumann: Wir wissen noch nicht genau, mit welcher Gruppe die Täter zuletzt zu tun hatten. Dieser Anschlag war komplexer als die der vergangenen Monate, also etwa die Anschläge in Ottawa oder die Versuche, in Menschenmengen zu fahren, die es zuletzt in Frankreich gab. Dieser Anschlag hat mehr Planung erfordert, man kannte die Abläufe und die Sicherheitsvorkehrungen.

Was bedeutet das?

Entweder waren es Kämpfer, die aus Syrien zurückkamen und dort beim Islamischen Staat waren. Die dort vielleicht weiter radikalisiert, brutalisiert und verroht wurden und sich gewisse Fähigkeiten erworben haben. Oder es war tatsächlich die alte al-Qaida. Inzwischen heißt es, dass einer der Brüder eine Waffenausbildung bei al-Qaida im Jemen gemacht haben soll. Das ist die am professionellsten agierende Al-Qaida-Gruppe, die schon lange angekündigt hat, im Westen Anschläge zu verüben. Das Ziel würde auch passen.

Warum?

Al-Qaida im Jemen hat seit Jahren gegen Charlie Hebdo agitiert, hat sogar Listen mit Namen der Redakteure veröffentlicht.

Dass die Täter ohne Organisation im Hintergrund agierten, schließen Sie aus?

Nach dem, was bekannt ist, sind die beiden Brüder in der extremistischen Szene unterwegs gewesen. Es muss nicht sein, dass sie den klaren Auftrag bekommen haben. Vielleicht haben sie nur den generellen Auftrag „Macht mal was“ aufgenommen.

Wir wissen noch nicht, ob es auch einen Zusammenhang zum IS gibt. Was deutet auf diese Organisation?

Der Sprecher des IS hat am 22. September 2014 in einer Ansprache gesagt, ihr müsst nicht herkommen, ihr könnt auch in euren Heimatländern Anschläge verüben. Und er hat besonders Frankreich erwähnt, „die dreckigen Franzosen“. Seitdem sehen wir eine Reihe dieser Anschläge. Ich befürchte, dass das nicht das letzte Ereignis dieser Art in diesem Jahr war.

Für al-Qaida wäre ein solcher Anschlag eine Strategieänderung. Sehen Sie das auch so?

Ich glaube, al-Qaida ist noch ambitionierter. Die glauben, dass sie nur durch einen großen, komplexen Anschlag wieder in die Offensive kommen können. Denn das ist jetzt der Islamische Staat.

Welche Rolle spielt der Kampf um den Führungsanspruch zwischen diesen Gruppen?

Die Verdächtigen

■ Chérif Kouachi: Der 32-Jährige wurde, wie sein Bruder Saïd, in Paris geboren. Ihre Eltern waren aus Algerien nach Frankreich eingewandert und starben früh. Als junger Erwachsener führte er im 19. Bezirk von Paris ein Leben, das sich nicht streng am Koran orientierte: er trank, kiffte, hörte Rap. Mit seinem Bruder besuchte er Anfang der 2000er Jahre Korankurse bei dem salafistischen Prediger Farid Benyettou. Danach wurde er Teil von dessen Gruppe „Filière Irakienne“. Kurz bevor er sich 2005 über Syrien in den Irak absetzen konnte, wurde er verhaftet. 2008 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, 2010 saß er wegen einer Befreiungsaktion erneut in Haft.

■ Saïd Kouachi: Den heute 34-Jährigen hatten die Ermittler zunächst im Zusammenhang mit den Aktivitäten seines jüngeren Bruders im Visier. Was die französischen Ermittler offenbar nicht auf dem Schirm hatten: Er soll ein Ausbildungslager des Terrornetzwerks al-Qaida im Jemen durchlaufen haben. Wie US-Medien unter Berufung auf Geheimdienste berichten, wurde er dort 2011 einige Monate lang für den bewaffneten Kampf ausgebildet. Nach Angaben eines US-Vertreters stehen beide Brüder schon seit Jahren auf der Terrorliste der USA. Die Einreise ins Land ist ihnen untersagt; auf der US-Flugverbotsliste stehen sie ebenfalls.

Für die Leute auf Führungsebene ist das sehr wichtig. Es gibt seit einiger Zeit Hinweise, dass der Islamische Staat versucht, die Führungsriege von al-Qaida als nicht islamisch zu brandmarken, was natürlich sehr drastisch ist, weil sie bis vor Kurzem noch gemeinsam gekämpft haben. Dieser Hass treibt die Leute auch an.

Hat sich die Anschlagsgefahr im Westen nun erhöht?

Nachahmungstäter kann es immer geben. Aber auch ohne diesen Anschlag müssen wir 2015 mit Anschlägen rechnen. Wir haben in den letzten zehn Jahren Glück gehabt, weil die Dschihadisten so ambitioniert waren, dass sie sehr komplexe Anschläge planten, an denen sie häufig selbst scheiterten oder wo die Polizei ihnen auf die Spur kam. Seit Mitte letzten Jahres ist eher die Strategie: Schaut, was der IS mit der Enthauptung einer Person schafft. Damit kann man genauso viel Terror und Panik und Polarisierung schaffen. Diese Attacken sind viel schwerer für die Sicherheitsorgane zu verhindern.

Wie groß ist die Gefahr in Deutschland?

Es gibt eine akute Gefahr, aber die ist weniger groß als in Frankreich. Für Frankreich ist das eine sehr, sehr gefährliche Situation.