: Arbeit im Liegen
SPIELFILM „Top Girl oder La déformation professionelle“ von Tatjana Turanskyj erkundet den Alltag einer Prostituierten
VON CAROLIN WEIDNER
Der zweite Teil von Tatjana Turanskyjs Trilogie „Frauen und Arbeit“, „Top Girl oder La déformation professionelle“ mit Julia Hummer und Susanne Bredehöft in den Hauptrollen, schafft irgendwann in der Mitte einen guten Link zwischen den Tätigkeiten beider Frauen, der fast untergeht, so subtil ist er. Da sitzt Lotte (Bredehöft), Gesangslehrerin, einstige Chanteuse, Mutter, Großmutter, mit ihrem erwachsenen Schüler vor den Tasten. Herumgeübt wird an der Bach-Kantante „Ich habe genug“, und der unbegabte Sänger kann dieses „genug“ einfach nicht vernünftig halten. Lotte verzagt nicht, zählt geduldig mit und schließt letztlich mit der Floskel: „Singen ist Sport im Stehen.“ Dabei klingt es ja immer so einfach, das Singen. Wenn es denn klappt. Jedenfalls macht es für alle, die nicht selbst ranmüssen, öfters den Anschein. Lotte aber weiß es besser.
Bei Helena (Julia Hummer) verhält es sich ein wenig anders. Sie ist die knapp 30 Jahre alte Tochter von Lotte, ebenfalls Mutter und vom Selbstbild her Schauspielerin. Und tatsächlich sieht man Helena einmal bei einem Casting. Sie soll, so die Regieanweisung, eine „notgeile Frau“ spielen, eine, die mal einen Sekt zu viel trinkt an der Bar und dann eben total „notgeil“ wird. Helena kommt dieser Aufforderung in genau der Art nach, wie sie sie auch empfindet: als Veräppelung. Für die folgende, völlig überzogene Darstellung dieser Notgeilen kann man Turanskyj und Hummer eigentlich nur danken. Sie ist ein dicker, fetter Mittelfinger in Richtung einer biederen und gleichsam versabberten Verklemmtheit. Sekt, feuchtes Höschen, könnt ihr haben, denkt sich diese Helena und robbt schon über den Boden, „Ich bin so notgeil, so notgeil“, keuchend. Abgang.
Helenas Berührung mit Sexualität fällt in Wahrheit um einiges komplexer aus. Sex ist ihre Arbeit. Und Turanskyj gelingt es, an ihrer Helena deutlich zu machen, was für eine knallharte Arbeit das eigentlich ist. Ähnlich den Klängen, die den Profis scheinbar mühelos aus der Kehle steigen, switcht Helena durch ihr Repertoire als „Jacky“. Lücken im Programm fallen sofort auf, werden reklamiert. Als Helena einmal den Analsex mit einem Kunden abbricht, bemerkt dieser: „Ich dacht, du bist ’n Profi. So kann ich’s auch zu Hause haben, ey.“
Dabei scheut Helena keine Mühen. Für einen anderen Kunden wird gleich eine ganze Geschichte inszeniert, Sprechproben inklusive. Und nach der Arbeit absolviert Helena neben dem Wäscheständer Sit-ups, bis das Gesicht rot ist. Auch ansonsten ist von ekstatischer Lust wenig zu sehen. Die wieder zu Helena Gewordene kämmt ihre Perücken, desinfiziert, putzt, putzt, putzt.
Alle sind Verlierer
Sie verkörpert damit einen großen Kontrast zu den Männern, die einem in „Top Girl“ begegnen. Turanskyj zeigt sie nämlich immer wieder als selig Schlafende, erschöpft vom Liebesspiel, friedlich, harmlos. Im Wachzustand präsentieren sich einige indessen als eher unangenehme Gesellen, deshalb jedoch nicht minder bemitleidenswert. Der „So kann ich’s auch zu Hause haben, ey“-Kunde etwa, ist ein überarbeiteter Programmierer, der von einer Feedback-Runde zur nächsten hechelt, in der Hoffnung, nach diesem Auftrag ein ganz neues „Level“ zu erklimmen. Von dieser Perspektive aus stimmt es schon, was ein Protagonist in Turanskyjs vorangegangenem Film, „Eine flexible Frau“ von 2010, so deprimierend bemerkt: Dies ist „ein System, in dem Männer und Frauen gleichermaßen Verlierer sind“. Die flexible Frau hieß damals Greta M. (Mira Partecke) und war eine vierzigjährige Architektin, die geradewegs in die Arbeitslosigkeit geschlittert war und mit diesem Herausfallen aus der Welt der Werktätigen so gar nicht klarkam. Helena schlägt sich hingegen bravourös. Zu bravourös. Perfektionistisch. Verbissen.
Wurde Greta in „Eine flexible Frau“ im Callcenter noch mit Sprüchen wie „Wissen Sie, man muss immer freundlich sein, innerlich lächeln“ bedacht – was diese eher dazu verleitete, noch einen Schnaps mehr zu kippen und noch ein bisschen lauter zu heulen, befindet sich Helena in „Top Girl“ nicht nur in einer Zone, die ohnehin schon recht hermetisch und wortkarg ist. Helena selbst bewegt sich mit dieser sonderbaren, aber eindringlichen Mischung aus Härte, Stolz und Verschlossenheit. Man guckt ihr gebannt dabei zu, die Figur ist stark, auch brüchig, und Hummer spielt sie hervorragend. Isoliert aber sind beide Frauen, Greta wie Helena. Eine, weil sie ihre Position in der regulären Arbeitswelt verloren hat und nicht weiterweiß. Die andere, weil sich ihr Arbeitsalltag im Verborgenen abspielt, unsichtbar bleibt. Die eine macht Krawall. Und die andere exzessiv Sportübungen in der Wäschekammer.
■ „Top Girl oder La déformation professionelle“. Regie: Tatjana Turanskyj. Mit Julia Hummer, Susanne Bredehöft, RP Kahl u. a. Deutschland 2014, 98 Min.