: Ganz normal verrückt
Voll im Trend zum Einkaufen oder zum Ausgehen. Ein Bummel durch die ehemaligen Amsterdamer Arbeiterviertel De Pijp und Jordaan. Jeder Eingang, jede Nische, jeder Winkel wird dekorativ genutzt. Platz ist – ganz pragmatisch – auf kleinstem Raum
VON GUNDA SCHWANTJE
Maartje Wildeman wohnt im obersten Stock eines Hauses an der Amstel. Durch die großen Schiebefenster hat man einen weiten Blick über den Fluss und auf die Skyline Amsterdams. Renovierte Giebelfassaden, moderne Architektur, Kirchtürme, Brücken. Die Amstel hat der Stadt ihren Namen gegeben, „Dam an der Amstel“, was so viel bedeutet wie Damm im Wasserland, denn „Amstel“ heißt Wasserland.
Die Wohnung von Maartje grenzt an das alte Arbeiterviertel De Pijp. Seit geraumer Zeit ist es hip. Wie der Jordaan, der andere vielbesungene Arbeiterbezirk. De Pijp liegt gerade außerhalb des Grachtengürtels. Die Straßen sind schmal, die Häuser aus dem 19. Jahrhundert, einst schlichte Mietskasernen, sind renoviert oder durch Neubauten ersetzt. „De Pijp wurde in den Neunzigerjahren von Yuppies entdeckt“, erklärt Maartje Wildeman. Hier war Wohnraum noch günstig. Denn die Preise für Immobilien steigen unaufhörlich. Eine Wohnung ist ohnehin nur schwer zu beschaffen in Amsterdam. Viele der neuen Bewohner haben Wohnungen gekauft und saniert. Das wiederum hat kleine Geschäfte angezogen, viele Cafés und Kneipen. „In De Pijp leben jetzt Kreative, junge Selbstständige, Menschen mit Ressourcen, die den Studenten, Ausländern, Lebenskünstlern hinterhergezogen sind“, sagt Maartje.
Drei steile Treppen führen auf die Straße, und nach einem kurzen Gang erreichen wir ihn, den Albert Cuyp Markt, in der Albert Cuypstraat. Der Markt ist das Herz von De Pijp. Farbenprächtig und gut besucht an diesem Morgen. „Wie immer“, kommentiert Maartje Wildeman. Sie weist auf das Angebot hin. „Alles, was der Mensch zum Leben braucht, kann man in dieser Straße erwerben, und vieles, was der Mensch nicht unbedingt nötig hat.“ Schönes und Schrilles. Hier kaufen Niederländer, die aus Surinam stammen oder aus Indonesien, Amsterdamer aus Marokko, aus der Türkei, aus Indien, von den Niederländischen Antillen. Immerhin leben 174 Nationalitäten in Amsterdam. Der Markt ist mindestens genauso international. Matjes werden neben exotischem Gemüse feilgeboten. Es gibt Brautkleider, Henna, Möbel aus Indonesien, Saris, Topfpflanzen, eingelegte Gurken, Wellensittiche, Buddhafiguren, Tee. Und Damenbekleidung mit wildem Design. „Es gibt eine Albert-Cuyp-Mode“, sagt Maartje, „und wie man sieht, tragen die Frauen sie auch.“ Leggings ganz aus Spitze zieren die Beine so mancher Frau, die vorbeigeht. Die durchsichtigen Kaftane vom Stand nebenan dienen als modischer Überwurf. Eine alte Dame hat sich in ein kreischgrünes Outfit geworfen, eine pinkfarbene Plastiktasche trägt sie als Accessoire.
„Sein Fahrrad zu stylen und zu dekorieren ist der allerletzte Schrei“, weiß Maartje. Seidenblumen, Seidenschmetterlinge oder Blattwerk aus Plastik schmücken die Lenker, und auf den Radtaschen sind große Blumenmuster. Farbenfroher Kitsch. Maartje Wildeman steuert einen Laden an. Dort gibt es bestickte Schuhe, ohne Fußbett, bestickte Kleider, aus Synthetik, bestickte Samthandtäschchen, für einen Lippenstift. Alles regenbogenbunt.
Wir gehen ins „Bazar“. Durch den goldenen Engel, der auf dem Dach thront, kann man das Café schon von weitem verorten. Es ist in einer Kirche untergebracht, denn in den ehemals so bibelfesten Niederlanden werden die Gotteshäuser seit den Sechzigerjahren immer weniger gebraucht. Orientalische Lampen hängen an der Kuppel, die Wände sind bis oben gekachelt, blaugrüntürkisfarbene Ornamente auf hellbraunem Grund. Darin stehen Gartenmöbel in zarten Farben. Weinrote Lämpchen leuchten von der Zwischendecke. „So eine Ausstattung finden wir Niederländer ‚gezellig‘ “, sagt Maartje Wildeman, „und dass etwas ‚gezellig‘ ist oder so aussieht, ist für Niederländer von zentraler Bedeutung.“ Informell soll es sein, unbeschwert, darauf legt man hier Wert.
De Pijp kommt quirlig und leichtfüßig daher, zum Ausgehen bestens geeignet. „Die Atmosphäre erinnert mich immer an den Süden“, sagt Maartje. De Pijps Straßen sind grün. Entlang so mancher Hauswand wurde der Boden vom Pflaster befreit für Beete. Überall Blumen und Stauden in Töpfen, Wannen, Fässern und was sich so eignet als Behälter für Stockrosen, Schmetterlingssträucher, Rosen. Jeder Eingang, jede Nische, jeder Winkel wird genutzt. Platz ist noch auf kleinstem Raum. Den Amsterdamern ist der Mangel an Raum vertraut.
Im Westen des Grachtengürtels befindet sich das ehemalige Arbeiterviertel Jordaan. Es ist De Pijp in der Entwicklung vorausgegangen. Ein Mythos. Wir schlendern über den Noordermarkt im Jordaan. Heute, an einem Samstag, gibt es hier einen kleinen, feinen Markt mit vielen Bioprodukten, Büchern und Kunsthandwerk. Auffallend viele Besucher sind mit Reiseführern und Stadtkarten ausgerüstet. In den Straßencafés am Noordermarkt, im Winkel zum Beispiel, im Finch, herrscht lebhaftes Treiben bei italienischem Kaffee und Appeltaart, Apfelkuchen. Bewohner sitzen auf den Treppen der Häuser. Sie lesen Zeitung in der Sonne, sprechen mit Nachbarn, sprechen mit Fremden. Leben und leben lassen. Vielleicht speist sich diese Toleranz aus einer gehörigen Portion Pragmatismus, denn es ist eng hier.
Die Bewohner von Jordaan gelten als provozierend selbstbewusst, und der Jordaan selbst gilt als eine eigene Welt. Im 17. Jahrhundert wird der Jordaan in den sumpfigen Polder gesetzt für Arbeiter, Handwerker, Flüchtlinge. Winzige Behausungen, nach einer Bevölkerungsexplosion hoffnungslos überbelegt (um 1900 hausen hier rund 78.000 Menschen, 19.000 sind es heute). Ein Slum. Seit 1934 ist es an die städtische Kanalisation angeschlossen. Ab 1960 entdecken Künstler, Aussteiger, Studenten, Intellektuelle das Viertel und machen es bewohnbar. Als städtische Sanierungspläne bekannt werden, die den Abriss der Häuser vorsehen, wehren sich die Bewohner. Mit Erfolg. Und die Westerkerk an der Prinsengracht steht auch noch: Hier fand Rembrandt seine letzte Ruhe.
Herausgeputzt und fein gemacht, so kommt der Bezirk heute daher. Eine Touristenattraktion mit Buchläden, Boutiquen mit Designerkleidung, Galerien, Restaurants, kleinen Nahversorgungsgeschäften in den schmalen Läden und vielen Straßencafés. Erhalten geblieben sind auch die braunen Cafés, legendäre Eckkneipen, verlagerte Wohnzimmer. Hier wurde so mancher Künstler entdeckt. Johnny Jordaan ist der berühmteste. Die Lieder, die sie sangen, „Amsterdamer Lebenslieder“ genannt, preisen die Stadt, rühmen den Jordaan. Sie sind stolz darauf: „Lieber in Amsterdam ohne Geld als in Paris mit einer Million“, heißt es in einem Lied.
Auch De Pijp hat seine Ikone: den Sänger André Hazes. Er starb vor drei Jahren, auch er war der Stolz der Nachbarschaft, wenn nicht der Nation. André Hazes’ hat am Albert Cuyp Markt ein Denkmal. „Gewoon een heel bijzonder“ steht am Sockel, „normal und sehr besonders“. Das ist ein Kompliment für einen, der über Talent verfügte, berühmt und reich wurde und die Anerkennung der Gemeinschaft genoss, weil er dennoch einer von ihnen blieb. „Doe maar gewoon, dan ben je al gek genoeg“ – „verhalte dich doch normal, dann bist du schon verrückt genug“. „Eine sehr geläufige Redewendung in Holland“, bestätigt Maartje.