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Archiv-Artikel

Schlammkekse

In vielen Berichten über das Elend in Haiti werden dünne getrocknete Tonscheiben gezeigt. Arme Haitianer essen diese angeblich, aus Hunger. Das stimmt so nicht. Es handelt sich um ein Heilmittel

von Hermann Abmayr

Als Claudette Coulanges, zurück in Deutschland, zum ersten Mal einen Fernsehfilm über das Elend in Haiti sieht, ist sie schockiert. Dabei hatte die gebürtige Haitianerin an dem Film zum Teil selbst vor Ort mitgewirkt. Die deutschen Filmemacher zeigen dünne, getrocknete Scheiben aus Tonerde, die angeblich aus Schlamm, Salz und Butter gemacht sind. Viele arme Leute essen diese Scheiben, heißt es in dem Film. „C’est incroyable“, sagt die 51-Jährige. „Niemand isst diese Scheiben aus Hunger. Die Geschichte existiert nur in den Medien.“

Coulanges hat zehn Jahre in Stuttgart gelebt. Kurz vor dem Erdbeben in Haiti vom Januar 2010 zog sie mit ihrer Familie nach Berlin. Doch die meiste Zeit verbrachte sie seitdem in Haiti, um zu helfen. Zurückgekommen nach Stuttgart ist sie nur für wenige Tage, etwa um mit „Brot für die Welt“ Hilfsprojekte zu besprechen.

Claudette Coulanges hat ihr Handwerk als Filmemacherin an der Hochschule für Fernsehen und Film in San Antonio de los Baños auf Kuba gelernt. Ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes führte sie 1995 nach Deutschland, wo sie seitdem mit ihrer Tochter und ihrem deutschen Mann lebt. Seit dem Erdbeben war die Deutschhaitianerin an drei Fernsehdokumentationen als Rechercheurin, Aufnahmeleiterin, Dolmetscherin und Übersetzerin beteiligt. Sie hat Dreharbeiten in Haiti vorbereitet, die gewünschten Protagonisten und Drehorte gesucht, bevor das deutsche Team kam.

Claudette Coulanges kennt die Geschichte von den Lehmplätzchen schon länger. Anfang des Jahres hatte ihr ein deutscher Filmemacher wieder einmal die Geschichte der Lehmkekse erzählt. Er bestand darauf, ihre Herstellung zu drehen. Claudette Coulanges ging dann mit zwei jungen Haitianern in das berüchtigte Elendsviertel Cité Soleil, um die Fernsehleute mit den Frauen bekannt zu machen, die die Schlammscheiben herstellen. Die Haitianerinnen erzählten, dass sie seit vielen Jahren aus Lehm und Wasser kleine Scheiben formen und an der Sonne trocknen lassen, um sie dann zu verkaufen. Salz oder Butter, wie immer wieder behauptet wird, werde nicht zugegeben. Coulanges: „Völliger Unsinn, denn wer kann sich denn in einem Slum Butter leisten?“

Die Tonscheiben dienten den Frauen in Haiti und der benachbarten Dominikanischen Republik als Heil- und Kosmetikartikel. Man benutze sie auch zum Peeling, zum Entfernen der obersten Hautschicht. Deshalb zeige keiner der Filme, die sie kennt, wie hungernde Haitianer die Tonscheiben essen. Coulanges: „Ich kann mich an einige Frauen erinnern, vor allem Schwangere, die gelegentlich getrocknete Tonerde knabberten oder lutschten. Doch das hatte nichts mit Hunger zu tun.“

„Wer die Wahrheit wissen will, muss sich Zeit nehmen“

Dies bestätigt der Hamburger Filmemacher Michael Höft, der die Herstellung der Tonscheiben zwar gedreht, dies aber in seinem Film nicht verwendet hat, obwohl auch er „von der Symbolik und Emotionalität des Bildes“ zunächst elektrisiert war. Die Entwicklungshelferin Astrid Nissen, seit vielen Jahren in Haiti als Leiterin eines Projektbüros der Diakonie Katastrophenhilfe tätig, bestätigte der Kontext:Wochenzeitung, die Scheiben aus saurer Tonerde seien ein traditionelles Heilmittel, zum Beispiel bei Verdauungsstörungen, „das man in den Märkten bekommen kann, wie man essigsaure Tonerde in Deutschland in Reformhäusern kauft“.

Offensichtlich, so Claudette Coulanges, seien viele Journalisten auf Medienberichte aus der Zeit der Hungerrevolte hereingefallen, zumal die Geschichte einem guten Zweck diene. Doch wer die Wahrheit wissen wolle, „muss sich in Haiti Zeit nehmen“. Denn die erste und zweite Version einer Erzählung stimme häufig nicht oder nur teilweise. Dies gelte vor allem für ausländische Journalisten, die ihren Informanten und Protagonisten Honorare bezahlten. „In der Not erzählt man dann auch die Geschichte, die gewünscht wird.“

Von den Zigmilliarden Dollar an Aufbauhilfe, so die Deutschhaitianerin, sei bisher nur wenig angekommen. Dennoch gebe es einige kleine Fortschritte auf dem Land. Claudette Coulanges selbst leitet Projekte in ihrem Geburtsort Aquin, eine Kleinstadt im Süden Haitis. So baut sie zurzeit mit Hilfe der deutschen Organisation „Weltgebetstag der Frauen“ eine Brotfabrik auf, um die lokale Landwirtschaft zu unterstützen. „Doch wir backen unser Brot nicht aus Getreide, sondern aus Maniok. Seitdem Haiti aber mit billigen Westwaren überschwemmt wird, backen die Frauen immer seltener das traditionelle Brot.“ Und der Anbau von Maniok sei stark zurückgegangen.

Dies sei nur ein Beispiel für den Niedergang der haitianischen Landwirtschaft. Dieser hatte Mitte der 80er Jahre begonnen, als die haitianische Regierung die Importsteuern auf Nahrungsmittel auf Drängen der Welthandelsorganisation und der US-Regierung drastisch senkte. Die Folge: massenhafte Einfuhr von preiswerten, zum Teil subventionierten Waren wie Getreide, Reis, Tiefkühlgeflügel oder Schweinefleisch. Und die örtlichen Produzenten blieben auf ihren Produkten sitzen.

„Die Bauern in der Umgebung von Aquin bauen jetzt wieder mehr Maniok an, denn sie hoffen, dass die neue Maniokbrotfabrik ein Erfolg wird“, sagt Claudette Coulanges. Die Landwirtschaft sei der Schlüssel für die Entwicklung Haitis. „Wenn die Bauernfamilien wieder von ihrer Arbeit leben können, müssen sie nicht in die Slums von Port-au-Prince fliehen. Darüber sollten die Medien berichten. Pseudosensationen wie der Verzehr von ‚Schlammkuchen‘ helfen nicht weiter.“