piwik no script img

Archiv-Artikel

Harter und zarter Protest mit Jingo de Lunch und Dota

Ach ja, was waren das für Zeiten. Ganz warm ums Herz kann einem werden, wenn man „Live in Kreuzberg“ auflegt. Die Mauer steht noch, die Luft schmeckt nach Braunkohle aus realsozialistischem Tagebau und in Kreuzberg weiß noch lange niemand, was ein Beer-Bike ist. Auf der Bühne des kleinen Kellerclubs stehen Jingo de Lunch, Yvonne Ducksworth lässt die Dreadlocks fliegen im Takt der gemeingefährlichen Gitarrenriffs. Ihr Gesang allerdings verschwindet hinter dem matschigen Sound, weil der Typ hinterm Mischpult schon zwei, drei Dosen Bier zu viel intus hat. Kurz: Es ist ein sehr gelungener Abend im Kreuzberg der achtziger Jahre, der da auf dieser CD für die Ewigkeit erhalten bleibt. Doch dann schlägt man das Booklet auf und erfährt: Der Auftritt, der hier dokumentiert ist, fand statt am 25. November 2010 im Lido.

Dass die kanadische Kreuzbergerin Yvonne Ducksworth nach mehreren Jahren doch wieder in die alte Heimat zurückgekehrt ist, das hatte vor allem damit zu tun, dass sie sich in den USA nicht wohlfühlte. Als sie zurückkam, fand sie die alte Heimat zwar ziemlich verändert vor, die alten Freunde aber wieder. Sie reformierte Jingo de Lunch, die beste Hardcore-Punk-Band, die diese Stadt je hervorgebracht hat, und spielte Konzerte, die „fast wie Klassentreffen“ waren. Tatsächlich klingt die zum Teil umbesetzte Band nahezu ebenso knackig und kompromisslos wie anno dunnemals, vor allem auf dem vor einem Jahr erschienenen Comeback-Album „Land of the Free-ks“. Die neuen Songs finden auf „Live in Kreuzberg“ mit Klassikern wie „Did You Ever“ zusammen, und man merkt nun noch deutlicher, worum es Ducksworth vor allem geht: Sie will ihre alte Heimat Kreuzberg zurück. Jingo de Lunch spielen den Soundtrack zum Kampf des tapferen gallischen Dorfes, das sich gegen Gentrifizierung und Eigentumswohnungsbesitzer wehrt, gegen den Kapitalismus, eben „gegen den Scheiß“, wie es Ducksworth bei einer Ansage formuliert. Die Römer rücken näher, aber noch lebt das alte Kreuzberg und Jingo de Lunch verteilen den Zaubertrank.

Einen ähnlichen, wenn auch nicht ganz so lokalen Kampf kämpft Dota Kehr. Ein ganzes Stück jünger als Ducksworth und musikalisch entschieden sanfter, aber auch schon ganz schön lange damit beschäftigt, der links-alternativen Szene ein paar Songs zu singen, hat sie nach acht Studioalben in diesem Jahr endlich ihre längst legendär gewordenen Bühnenfähigkeiten verewigt. Und das gleich zweimal: Im Frühjahr erschien „Solo live“, nun folgt mit „Das große Leuchten“ das Live-Album mit ihrer Band, den Stadtpiraten. So ist das ganze Spektrum von Dota abzuhören: Ungefähr wie auf „Solo live“ hat sie sich wohl angehört, als sie sich als Straßenmusikerin einst den mittlerweile eher ungeliebten Ehrennamen Kleingeldprinzessin verdiente. Und „Das große Leuchten“ zeigt, wie sie heute klingt, also eine Songwriterin mit Texten, die sehr genau beobachten, und dann ganz freundlich mit ein wenig französischen, ein wenig südamerikanischen Einflüssen vertont werden. Auch da wird einem oft warm ums Herz. THOMAS WINKLER

■ Jingo de Lunch: „Live in Kreuzberg“ (Nois-O-Lution/Indigo), live: 14. 10., Clash; Dota & die Stadtpiraten: „Solo live“, „Das große Leuchten“ (Kleingeldprinzessin/Broken Silence), live: 28. 10., Postbahnhof