: Kongress der Lernreformer streift das Tabu
MISSBRAUCH Das Entsetzen über die Verbrechen der Reformpädagogen ergreift den Lernkongress
■ „Die Begegnungen mit den Betroffenen systematischer sexualisierter Gewalt hat uns bewegt, aber auch Mut gemacht. Deswegen wollen wir folgendes Commitment abgeben: Wir verpflichten uns, Betroffenen zuzuhören. Wir wollen in zwei Jahren Bilanz ziehen, Foren schaffen, Workshops anbieten zu den Themen Prävention und Ursachen. Die Auseinandersetzung mit dem Problem systematischer sexualisierter Gewalt im Namen einer (Reform-)Pädagogik darf nicht enden. Sie muss ins Zentrum unserer täglichen Arbeit, der der Regionalgruppen des Archivs der Zukunft und ins Zentrum des nächsten Kongresses.“
AUS BREGENZ CHRISTIAN FÜLLER
Ist das jetzt ein Henkersbeil? Oder ein Marionettenkreuz? Marco Marçal steht hinter seinem Tanzpartner. Er schwingt das Doppelkreuz über seinem Schädel. Die Zuschauer wissen nicht, ob sie gleich Zeuge einer theatralischen Enthauptung werden. Lichtblitze zucken. Martialische Maschinenmusik. Alles ist möglich. Mord. Manipulation.
Am Ende ist es Manipulation. Der Tänzer Marçal macht aus dem Beil einen Steuerknüppel. Er richtet seinen Tanzpartner Poppin Hood damit auf. Mit abgehackten Bewegungen lässt Marcal die Marionette nun über die Bühne des Großen Saals im Bregenzer Festspiel tanzen. Ein Saal, der merklich an Zuschauern eingebüßt hat. Drinnen die Fans des männlichen Schauspiels von Macht und Verführung. Draußen vor dem Saal die verletzten Pädagogenseelen der Geflüchteten. So viel getanzte Intensität und Härte hatten sie nicht erwartet. Genauer: hatte ihnen Kongressmacher Reinhard Kahl auf dem Fest der Schulneudenker nicht angekündigt.
Die Kongresse von Reinhard Kahls „Archiv der Zukunft“ (AdZ) versammeln das Spannendste, was es an Köpfen in der deutschsprachigen progressiven Pädagogik gibt. Der „Arche Nova“-Kongress Bregenz aber hat an Fahrt verloren, ehe er ablegt. Über 1.500 Teilnehmer sind von überall her angereist. Erst vor Ort sehen sie ein Programm, in letzter Minute zusammenkopiert. Bis zu 1.000 Kilometer Hin- und Rückreise an den Bodensee, mindestens 500 Euro Kosten, aber praktisch null Detailinfo.
Diese Unsicherheit kulminiert nun in der Eröffnung des Kongresses „in einer Tanzperformance“ – so kündigt es Kahl an. Und alle erwarten 15 bis 20 Minuten Breakdance. In Wahrheit aber ein erleben sie ein 65-minütiges Bühnenstück von höchster Intensität. „Voodoo Vibes“ von Marco Marcal alias Marco Wehr ist ein Märchen, in der die Tänzer mittels HipHop-Technik „ihre Lust am Bewegungswahnsinn auskosten“. So sagt es Marco Wehr, der mit Sven Weller den virtuosen Tanzakt aufführt.
„Eitle und brutale Männer!“, so sehen es manche Pädagogen hinterher. „Ich war dem schutzlos ausgeliefert.“ Aber liegt das an Marco Wehr? Oder an überraschten Zuschauern? Nein, es ist Kahls Geheimpolitik. Wer rechnet in einer Eröffnung zwischen plätschernder Pädagogenpoesie und netten Kinderfilmchen schon mit einer Stunde nackten Männerkörpern und Electric Boogaloo? In Hamburg tanzte Marco Wehr im weißen Anzug eine geschmeidige Performance. Diesmal fragt ihn eine nervöse Lehrerin nach dem Tanz ernsthaft: „Warum sind Sie so böse?“
AdZ-Kongresse waren stets Wundertüten. Wie immer finden sich süße Bonbons darin – aber auch harte Nüsse und faule Eier.
HERBERT ULONSKA
Der Kongress 2011 besteht aus, so könnte man es aufteilen, drei Wundertüten: Die erste und größte ist das Kahl’sche Programm. Last Minute, vielen AdZlern sattsam bekannt – und dennoch gut. Es sind ja nicht irgendwelche, die Kahl zu deren und zum eigenen Ruhm einlädt: Gerald Hüther, Remo Largo, Manfred Spitzer und so weiter. Sie bringen es sogar fertig, den Freaks des individuellen Lernens bis zu eineinhalb Stunden Frontbeladung zuzumuten. Ununterbrochen. Hinterher wiederkäuen die Jünger die klugen Worte der älteren Herren, bis allen der Kopf schwirrt von pädagogischen Phantasmen. In Diskurs treten sie ja kaum.
Die zweite Tüte ist das BarCamp, ein ganz anderes Format. Dialogisch, selbstorganisiert, kollaborativ, sich blitzschnell fortpflanzend und zellteilend in neue Workshops. Noch ehe die Kahl’sche Riesenarche lostuckert, flitzen die Schnellboote der beiden BarCamp-Organisatoren Guido Brombach und Felix Schaumburg hinaus auf den Bodensee und fischen die Themen von morgen: digitales Schulbuch, iPad-Klassen, kollaboratives Lernen mit und ohne Tools, Laptops und Smartphones mit und ohne Verbote. Im BarCamp ist jeder Teilnehmer ein Teilgeber, wie die Edu-Hacker sagen, die Hacker der verschnarchten Education à la Bildungsrepublik.
Das BarCamp startet Freitagfrüh mit 40 Leutchen – in der Spitzenzeit reden sich in der Seegalerie 130 Leute die Köpfe heiß. Aber als das BarCamp den Kongress herausfordern will, gehen Kahls große weise Männer ihre Wohnung renovieren. Manfred Spitzer hat die Twittercommunity des BarCamps mit dem Satz aufgeregt, dass Bildschirme weder in Kindergarten noch Grundschule etwas verloren hätten. Nun aber weigert sich der Hirnforscher mit dem Verweis auf offene Farbeimer zu Hause, ins BarCamp zu kommen. Auch sind die Anlegestellen der Arche Nova nun so eng gewählt, dass den Schnellbooten des BarCamps die Besatzung abhandenkommt.
Die dritte Tüte ist die gefährlichste: die sexuelle Gewalt und die Reformpädagogik. Die Zuhörer der Veranstaltungen sind gepackt, schockiert, wütend. „Ich konnte gestern nicht mehr zur Gala gehen“, sagt eine, „mir ging es so schlecht. Warum bleibt das alles ohne Strafe!“ Einer der Betroffenen sitzt auf der Bühne des großen Saals, er sagt: „Ich hätte viel früher jemanden gebraucht, der mir zuhört. Ich hab erst mit 25 Jahren geredet – da stand ich aber schon vor der Wahl: Nehme ich die Brücke oder die Bahn.“ Es ist so unwirklich, dass dieser schöne, lächelnde Mann von Anfang 40 das so offen sagen kann. Aber es ist ihm passiert. Christoph Röhl, der Filmemacher von „Und wir sind nicht die Einzigen“, sagt ganz richtig: „Warum sagen wir zu Betroffenen sexueller Gewalt: ‚Echt? War das wirklich so?‘ “
Die Foren zum Missbrauch stehen seltsam an den Rändern des Kongresses. Sie sind parallel gelegt oder entschärft durch zeitgleiche 1.000-Leute-Vorträge. Dennoch ergreift das Entsetzen den Kongress. Entsetzen darüber, dass es eingefleischte Reformpädagogen waren, die für ihre Schützlinge stets ein Vaseline-Döschen auf dem Nachttisch stehen hatten – damit es nicht so wehtut. Als der Missbrauchsexperte Herbert Ulonska sagt: „Die Reformpädagogik schafft keine Pädophilen“, will vereinzelter Beifall für Entlastung sorgen. Aber Ulonska ist tricky. „Moment mal“, sagt er, „der Satz geht ja noch weiter. Die Reformpädagogik ist die perfekte Ideologie, mit der Pädokriminelle sexuelle Gewalt rechfertigen können.“
Die Gewalt gegen Kinder hat sich im Fell der Reformpädagogik eingenistet. Obwohl außen draufsteht, dass kein Kind beschämt werden darf, predigten noch die größten Reformpädagogen die Perversionen ihrer guten Idee ganz öffentlich. Jürgen Oelkers zeigt das in seinem Vortrag: Ellen Key wollte ihr „Jahrhundert des Kindes“ eugenisch von behinderten Kindern säubern; Lietz, Petersen und Montessori hofierten skrupellos die Nazis und den Duce; der als Schülerdemokrat gefeierte Gustav Wyneken wollte mit einer Schrift namens Eros seinen Päderastenprozess überstehen. Die ganze reformpädagogische Ahnengalerie ist verpestet. Vor Wut auf Oelkers rennen manche davon.
■ … war der vierte Kongress des Archivs der Zukunft. (AdZ) Nach Hamburg, Münster, Bregenz I nun Bregenz II. Was zunächst nur en passant hätte Thema sein sollen, Reformpädagogik und sexuelle Gewalt, rückte dann doch mehr und mehr ins Zentrum des Kongresses. Bis zur Abschlusssitzung, wo 1.500 Teilnehmer die Bregenzer Erklärung beklatschten (siehe Bregenzer Erklärung). Sie soll auch vom AdZ veröffentlicht werden.
Die Unbelehrbaren gibt es natürlich auch. Sie insinuieren, dass der Päderast ein Argloser sei, der gar nicht merkt, dass er auf Kinder steht. Sie schaffen es in der Eröffnung vor 1.500 Leuten über den sexuellen Missbrauch zu reden, ohne das Wort ein einziges Mal auszusprechen. Der Kongress soll sauber bleiben. Das befleckte reformpädagogische Tarnkleid wird einfach abgestreift – und weiter geht’s, als wär nichts gewesen.
Aber da hat Reinhard Kahl die Rechnung ohne seine eigene Chaotik gemacht. Er ist es, der seinen Gästen das Unbewusste durch die 65-minütige Hardcore-Session ins Bewusstsein treibt. Marco Wehrs Voodoo Vibes sind ein Märchen in HipHop mit einer Wendung zum Guten. Die aber bekommen in Bregenz viele vor die Tür Geflüchtete nicht mehr mit. So wird für sie Voodoo Vibes zu einer Allegorie auf die unerbittiche Ambiguität der Verführung durch Gerold Becker an der Odenwaldschule. Mit einem Giftcocktail aus Gewalt und Manipulation machte er Schüler und Lehrer zu Marionetten – wie Marco Wehrs Voodini. Musik und Inszenierung sind so intensiv, so penetrant wie der Gehirnwäscher und Schulleiter. Dem haben sie einst einen vier Meter hohen Phallus direkt vors Büro gepflanzt. So ein Monster ragt nun auch in den Kongress hinein.
Und die ersten Pädagogen wissen, was es bedeutet.