Berlins Jugendliche sind netter als ihr Ruf

STUDIE Neuntklässler sind stark im Kiffen und Sprayen, aber nicht gewalttätiger als anderswo

Die Befragung war umstritten: Viele Klassen haben die Teilnahme an der Studie verweigert

Der Saal ist knackevoll, dabei ist nicht ganz klar, worum es an diesem Mittwochvormittag in der Neuköllner Werkstatt der Kulturen gehen soll. Darum, dass jeder sechste Jugendliche schon einmal Opfer von Gewalttaten war? Darum, dass die Berliner Heranwachsenden überdurchschnittlich oft Cannabis und Gewaltfilme konsumieren? Oder um die Frage, ob die Studie, der diese Ergebnisse entspringen, überhaupt rechtens ist? In keiner anderen Stadt habe es solche Widerstände gegen die Befragung zum Thema Jugendgewalt gegeben, sagen die Autoren vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen gleich zu Anfang ihrer Präsentation. Populismus und Datenschutzverletzung werfen ihnen einige Zuschauer vor.

Deutschlands berühmtester Kriminologe, Christian Pfeiffer, war sowieso in der Stadt. Am Tag zuvor hatte er an der Seite von Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) eine Missbrauchsstudie vorgestellt. Nun sollte es um die Gewalt von und unter Jugendlichen in Berlin gehen, und Pfeiffer hatte sich für seine Präsentation den besten Zeitpunkt ausgesucht: Seit Monaten versetzen Nachrichten über jugendliche U-Bahn-Schläger die Stadt in Aufruhr. Internet und „Tagesschau“ liefern die passenden Bewegtbilder. Der Eindruck ist klar: In der Hauptstadt gehe es besonders brutal zu.

Stimmt nicht, sagen Pfeiffer und sein Mitautor Dirk Baier, die vom Juni 2010 bis April 2011 insgesamt 3.167 Neuntklässler aller Schulformen befragen ließen. Ursprünglich sollten es 5.000 Schüler sein, doch viele Klassen hatten die Teilnahme schlicht verweigert. Von Anfang an gab es Kritik an den Fragen und Zweifel an der Anonymität der Ergebnisse. Besonders der Vorsitzende des Landeselternbeirats, Günter Peiritsch, hatte bis zuletzt gewarnt, man könne aus den Ergebnissen auf die Identität einzelner Jugendlicher schließen. „Das sei schlicht Unsinn“, bügelte Pfeiffer den Vorwurf ab. Er wüsste nicht einmal, aus welcher Schule die Ergebnisse kämen.

Befragt wurden die Schüler sowohl nach ihren Erfahrungen als Opfer als auch als Täter. Da es die erste Erhebung dieser Art für Berlin war, verglichen die Autoren ihre Ergebnisse mit bundesdeutschen Zahlen aus den Jahren 2007/2008. Dass jeder sechste Berliner schon einmal Opfer von Gewalttaten war, liegt demnach im bundesdeutschen Durchschnitt. Ähnlich sieht es bei den Tätern aus: Bei den erhobenen Strafttaten von Raub bis Körperverletzung sind die Berliner Durchschnitt. Einzige Ausnahme: Im Graffitisprühen üben sich ein Drittel mehr Jugendliche als anderswo.

Es gehe also keineswegs brutaler zu in Berlin, so die Schlussfolgerung der Autoren. Einige Besonderheiten habe die Befragung aber doch ergeben. So findet Jugendgewalt tatsächlich doppelt so häufig an Haltestellen und in öffentlichen Verkehrsmitteln statt. Außerdem suchen sich die Täter häufiger Unbekannte als Opfer aus als im bundesdeutschen Durchschnitt.

Gewaltfilme sind beliebt

Baier und Pfeiffer haben auch die Faktoren untersucht, die zu Gewalt führen können. Besonders auffällig: Die Zahl der Jugendlichen, die Gewaltfilme konsumieren, liegt 8 Prozent über dem Durchschnitt. Die Berliner würden außerdem häufiger Haschisch rauchen, dafür nur halb so häufig Alkohol trinken.

Viel Zeit für Diskussion blieb am Ende nicht. „Das können Sie dann in den Schulen machen“, empfahl Pfeiffer. MANUELA HEIM