: Der kleine Bruder
THEATER Der französische Regisseur Joël Pommerat zeigte ein politisch düsteres Märchen in Halle
Joël Pommerat ist einer der angesehensten Bühnenautoren und -regisseure Frankreichs. Mit seinen bösen Märchen aus der Jetztzeit, seiner verwunschenen Ästhetik und seinen großartigen Schauspielern hat er eine politisch-poetische Theaterform erfunden, die einzigartig ist. Nun war er zu einem seiner seltenen Gastspiele in Deutschland. Und das kam so: das „Wanderlust“-Projekt der Bundeskulturstiftung finanzierte einen intensiven Austausch zwischen seiner Compagnie Louis Brouillard und dem Puppentheater Halle. Dessen Leiter Christoph Werner hatte beim Festival Theater der Welt 2008 in Halle Pommerat für sich entdeckt.
Die Gruppen beobachteten einander bei den Proben, hielten gemeinsame Workshops ab, arbeiteten mit Menschen und Puppen und beschlossen, Pommerats neues Stück an ihren jeweiligen Häusern herauszubringen. Beide Aufführungen waren nun in Halle zu sehen.
Die Puppenversion beißt sich an „Ma chambre froide/Meine Kältekammer“ tapfer die Zähne aus, denn Werner geht den Stoff allzu gradlinig an, findet keine Bilder für die Unterströme der Wahrheiten und Lügen, denen die Figuren ausgesetzt sind. Vielleicht ist diese „philosophische Schlachtplatte“ (Pommerat) auch nicht unbedingt eine ideale Vorlage für die Puppenbühne – die Darsteller jedenfalls, als Puppenspieler hochberühmt, sind mit der Rollengestaltung vor allem sprachlich überfordert. Nur die stummen Traumszenen prägen sich ein, ansonsten schwebt über der Vorstellung ein Hauch von ambitioniertem Laientheater, der dem Stück nicht gut tut. Doch ohne Werners Begeisterung für Pommerat hätte es das Wunder des nächsten Abends nicht in Halle gegeben.
Da ist alles anders. Die Zuschauer sitzen an vier Seiten um eine kreisrunde Spielfläche mit Drehbühne – es ist wie im Zirkus, nur dass hier Menschen gezähmt werden, nicht Tiere. Aus tiefschwarzer Dunkelheit schneiden die Scheinwerfer Figuren und Szenen heraus, abrupte Blackouts rhythmisieren das Geschehen, Musik-, Geräusch- und Toncollagen verdichten die Atmosphäre. Es knistert vor Spannung, das Stück erhält sein Geheimnis zurück und jede Rolle ihren Widerspruch.
Die Geschichte von Estelle und ihren Arbeitskollegen, die vom unwirschen Chef Blocq gedemütigt werden, bis er erfährt, dass er unheilbar krank ist und ihnen die Firma schenkt – sie schlägt viele irrwitzige Haken. Blocq vertritt den Grundsatz: „Arbeit zu haben ist heute ein Privileg, und ein Privileg muss man sich verdienen. Das ist Demokratie.“ So handelt er auch, und sein plötzliches Umdenken geschieht nicht aus Sentimentalität, sondern um seine Familie bei der Erbschaft auszutricksen, weil er sie noch mehr hasst als seine Angestellten. Die sind mit der neuen Situation völlig überfordert. Sie ruinieren die Firma und sich selbst, schließen die unrentablen Betriebe und entlassen viele Kollegen mit schlechtem Gewissen. Außerdem quälen sie sich mit den Proben zu einer Theateraufführung, die Blocq ehren soll und Bedingung des Schenkungsvertrags ist.
Estelle, die Grundgute, die allen helfen und alle verstehen will, scheitert mit ihren Theaterproben ebenso wie mit ihrem Leben. Deshalb erfindet sie einen kleinen bösen Bruder, der die Probleme mit der Pistole löst. Sie ist es selber, und die Faszination für ihre andere Seite wird so groß, dass sie sich sogar in Blocq verliebt, weil er für sie Inbegriff des Bösen ist. In der schillernden Märchendramaturgie des Stückes ist alles möglich und alles vergebens.
Das Verrückte an dieser Aufführung ist, wie sie einen zwei Stunden lang durch die extremsten Stimmungen schleift und man sich das auch noch gerne gefallen lässt. Wie Pommerat das Publikum von den Alltagstragödien der Arbeitswelt in die pralle Farce der Theaterproben nach Estelles Träumen verführt oder von ihrer freundlichen Scheinheiligkeit zu ihrem Elend als geschlagene Ehefrau – das ist grandios und geradezu hypnotisch. Er gibt der Bühne die Macht der Fantasie und der Magie zurück, die sie heute so oft vermissen lässt, und alles, was er erzählt, ist so komisch und grausam, rätselhaft und schockierend wie das Leben selbst. Sein Theater sieht aus, als hätten Rivette und Pasolini gemeinsam einen Film gedreht und sich dabei nicht einigen können. Das Disparate und Ambivalente macht die Stärke dieses Gesamtkunstwerks aus, und das Unwahrscheinliche, aber eben trotzdem Mögliche ist seine Glorie. Bei der Verleihung der französischen Theaterpreise in diesem Jahr erhielt die Aufführung gleich zwei „Molières“: Einer ging an Joël Pommerat, einer an die Schauspieler.
RENATE KLETT