Checkliste für Kritiker

SCHLAGLOCH VON SARAH ELTANTAWI Auch wer Diktatoren kritisiert, sollte gewisse Hausaufgaben machen

■ ist Assistenzprofessorin für Vergleichende Religionswissenschaft am Evergreen State College im US-Staat Washington. In Berlin setzte sie ihre Forschung im Forum Transregionale Studien fort. Ein Teil ihrer Familie lebt in Kairo.

In Ägypten geschehen mit dem Mord an der Journalistin und Aktivistin Shayma’ al-Sabbagh und auch der Massenpanik von Fußballfans, ausgelöst durch die Tränengas der Polizei, weiterhin schreckliche Dinge. Entsprechend nahe liegt es, die Militärdiktatur von al-Sisi scharf zu kritisieren. Zu Recht. Das Problem liegt woanders, nämlich in dem üblicherweise angewandten Argumentationsmuster, das mit allzu wenig Sachkenntnis auskommt. Der Essay zu Gefängnissen in Ägypten von Tom Stevenson in der jüngsten London Review of Books, „Sisi’s Way“, ist hierfür nur ein, aber ein sehr eindrückliches Beispiel.

Unsinnige Vergleiche

Zunächst wird meist die westliche Politik gegenüber dem neuen/alten Militärdikatur in Ägypten referiert, um dann zu argumentieren, wie grauenhaft böse das Al-Sisi-Regime ist. Da Ägypten ein direkter Verbündeter der Amerikaner ist, gilt das Land als ultimatives Beispiel für das doppelte Spiel der USA. Die größere geostrategische Situation im Nahen Ost wird gern ignoriert und damit die Argumentation schief. Denn wie gefährlich sind die Militärs in Ägypten im Vergleich zum Assad-Regime, das für mindestens zweihunderttausend Tote und Millionen von Vertriebenen verantwortlich ist? Oder im Vergleich zum Iran, der Assad im großen Stil mit schweren Waffen und Tausenden von Kämpfern versorgt?

Für meine Studierenden bestellte ich kürzlich das Buch „Der große Dieb“ von Khaled Abou El Fadl. Ich wollte ihnen zeigen, dass es innerhalb der islamischen Tradition eine wichtige Kritik am Extremismus gibt. Bei der erneuten Lektüre stolperte ich dann über folgenden Satz: „Einige der schlimmsten Diktatoren der Geschichte, wie Joseph Stalin oder Gamal Abd-al-Nasser, brachten Reformen auf den Weg, die ihren Länden einen sozioökonomischen Fortschritt bewirkten.“

Auch die Studierenden waren empört. Per Mail fragten sie mich: „Wie Stalin??? Habe ich etwas verpasst? Stalin ließ Millionen Menschen umbringen und steckte weitere Millionen in Arbeitslager …!“

Sie hatten recht. Auch mir ist Abou El Fadels Übertreibung peinlich, umso mehr, da ich ihn noch immer für einen exzellenten Wissenschaftler halte.

Da heute ähnlich übertriebene Vergleiche in Mode sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen und die kompromisslosen Kritiker al-Sisis bitten, sich in Zukunft zu fragen, ob sie zumindest das ein oder andere Faktum auf der folgende Liste berücksichtigt haben.

Bitte an den Computer kleben …

1. Die Mehrheit der Ägypter wollte nicht mehr von Mursi regiert werden, obwohl sie ihn demokratisch gewählt hatten. Deshalb gingen Millionen gegen ihn auf die Straße.

2. Wenn eine Zahl ungesichert oder umstritten ist, habe Sie dann einfach die höchste genommen?

3. Haben Sie jemals die gigantischen Lieferung von Waffen an das Assad-Regime durch das islamistische iranische Regime kritisiert? Oder die Millionen von Vertriebenen berücksichtigt, die Jordanien und den Libanon destabilisieren und auch die Türkei unter Druck setzen? Viele Fakten belegen eben nicht den Antagonismus zwischen westlichen Mächten und der Arabellion. Sie spiegeln vielmehr den Kampf des Iran und seiner Verbündeten, der Hisbollah und dem Assad-Regime gemeinsam mit Russland und Katar wider, der sich gegen die Demokraten in Syrien, gegen Saudi-Arabien, die Muslimbrüder und nun auch den IS richtet. Haben Sie das berücksichtigt? Und auch erkannt, dass die klassische antiimperialistische Brille nicht immer die erhellendste ist?

4. Unterschätzen Sie womöglich die Bedrohung, die von der islamistischen Politik für die Region ausgeht? Indessen Sie an der Bedrohung durch die Militärdiktaturen keinen Zweifel haben?

5. Wurde irgendeine tiefergehende Recherche hinsichtlich der Quellen, Doktrinen, sozialen und religiösen Bewegungen durchgeführt? Wurde die offizielle Rhetorik zum tatsächlichem Verhalten in Beziehung gesetzt, die Haltung zu Fragen der Apokalypse berücksichtigt, vielleicht Stereotype von Sunniten in islamistischen Gruppen dekonstruiert?

… und meine Vorurteile?

6. Stehen Sie in regelmäßigem Dialog zu Quellen in Ägypten? Waren Sie überhaupt schon mal dort? Wie sieht es mit aktuellen Kontakten zu Aktivisten aus?

7. Die eigenen Vorurteile, was ist mit ihnen?

8. Womöglich ist Ihnen unklar, dass sich in Syrien eine absolute Katastrophe abspielt und auch in Libyen eine sehr beunruhigende Situation entsteht?

Stehen Sie in regelmäßigem Kontakt zu Quellen in Ägypten, auch zu Aktivisten? Waren Sie überhaupt schon mal dort?

9. Ist Ihnen bewusst, dass die Muslimbrüder 2012 mit einem Vorsprung von 1,3 Prozent gegen das alte Regime gewannen und dafür auch die liberalen/revolutionären Stimmen gebraucht haben?

10. Ist Ihnen aufgefallen, dass Teile des politikwissenschaftlichen Establishments in den USA die Ereignisse in 2013 kontinuierlich falsch interpretierten, weil sie der Analyse der Protestierenden kein Gewicht beimaßen und der orthodoxen Demokratietheorie frönten, ohne auch nur zu bemerken, dass sie Mitglied der Gemeinde sind. So kamen sie dann zur Schlussfolgerung, dass alle Staatsstreiche gleich sind.

11. Finden Sie es bedenkenswert, dass es sich bei den lautesten Stimmen unter den Islamisten und auch im politikwissenschaftlichen Feld, um weiße Männer handelt, die ihr Privileg nutzen, um die „dummen“ Landsleute zu „erziehen“? (Das waren exakt die Worte eine weißen islamistischen Kommentators).

12. Begreifen Sie, dass die einleitende Darstellung der Heuchelei westlicher Regierungen mindestens implizit verlangt, die westliche Politik gegenüber Ägypten zu verändern – doch keinen Vorschlag macht, wie das gehen könnte?

13. Haben Sie sich überlegt, wer in Ägypten die Macht übernähme, wenn Diktator al-Sisi und der tiefe Staat morgen verschwänden?

Ach ja, keinen tiefen Staat bringt man zum Verschwinden, wenn man wie im Irak einmarschiert. Im Gegenteil, man stärkt ihn.