Immer auf der Flucht

Am 15. Juli dieses Jahres hat ein Rechtsanwalt der israelischen Wohltätigkeitsorganisation „Fisher Fund“ eine Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht. Diese soll die Kosten für die psychotherapeutische Behandlung von rund 4.000 bis 5.000 Israelis übernehmen, die Kinder von Holocaust-Überlebenden sind und infolge der traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern selbst unter psychischen Problemen leiden.

Baruch Mazor, der „Fisher Fund“ in Israel leitet, verweist auf Statistiken, wonach es in Israel etwa 400.000 Menschen der sogenannten zweite Generation der Schoah-Opfer gibt. Von diesen litten rund 5 Prozent, also 15.000 bis 20.000 Menschen, an psychischen Problemen, die auf die Traumata ihrer Eltern zurückzuführen sind. Ein paar Tausende davon seien sogar arbeitsunfähig – und daher nicht in der Lage, die Kosten für eine psychotherapeutische Behandlung selbst aufzubringen. Mazor schätzt, dass die Bundesrepublik höchstens 100 Millionen Euro aufbringen müsste, um den Kranken zu helfen.

Die Reaktionen in Israel auf die Klage sind unterschiedlich. Die Organisation Amcha, die sich seit Jahrzehnten um die Opfer des Holocausts kümmert, fürchtet um ein negatives Echo in Deutschland. Die Bundesrepublik hat bislang 63,22 Milliarden Euro an NS-Opfer gezahlt.

Es war nicht ihr Leben, aber es lässt sie nicht los: Die Kinder von Holocaust-Überlebenden müssen Kind und Beschützer zugleich sein. Für manche ein Erbe, das krank macht

VON PHILIPP GESSLER

Eigentlich, sagt Gert Levy, habe er seine Angstzustände „ganz gut im Griff“. Das muss er auch, schließlich soll er Hilfe geben, nicht Hilfe brauchen. Der 54-jährige Kölner ist Gestalt- und Suchttherapeut. In seiner Praxis mitten in der quirligen Südstadt bietet er mehrsprachige interkulturelle Psychotherapie, Supervision und Coaching von einzelnen Patienten, Paaren und Gruppen an. Alles läuft gut.

Ab und zu aber kommen sie, oft plötzlich, diese „Panikmomente“, gepaart mit Schweißausbrüchen. „Ich drehe ab“, beschreibt er, was dann passiert. Der Auslöser: Levy sucht etwas in den Akten. Dabei hat er sie sehr penibel geordnet, um solche subjektiven Notsituationen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Seine Frau kennt diese Panik und entmündigt ihn dann, wie er es formuliert: „Ich suche für dich“, sagt sie. Das hilft. Aber schrecklich sei es zugleich, meint Levy, werde doch so das eigene Unvermögen bestätigt.

Das Beispiel ist harmlos, kaum mehr als eine Marotte – andere trifft es härter. Levy, Sohn eines Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfers, profitiert davon, dass er eine Lehrtherapie gemacht hat. Dieses Ausleuchten der eigenen Psyche ist vorgeschrieben, bevor man selber Therapien anbietet. Sonst könnte Levy einer seiner Patienten sein: Der dünne Mann mit schon etwas grauen Haaren, der ein wenig an den BAP-Sänger Wolfgang Niedecken erinnert, hat sich unter anderem auf die Therapie der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden spezialisiert. Ein Angehöriger der „Second Generation“, wie die Fachliteratur diese Gruppe nennt, behandelt, so gesehen, seine eigene Generation.

Die psychischen Probleme der „Second Generation“ sind nicht neu, seit etwa zwanzig Jahren werden sie, vor allem in den USA, von Fachleuten beschrieben und diskutiert. Sie gehen davon aus, dass zwischen fünf und zehn Prozent der Mitglieder der „Second Generation“ therapiebedürftig sind. Im Sommer drängte diese meist eher schweigsame Gruppe massiv in die Öffentlichkeit, als etwa viertausend Nachkommen von Holocaustüberlebenden in Israel eine Sammelklage gegen Deutschland einreichten. Sie forderten die Bundesregierung auf, die Behandlungskosten für notwendige psychotherapeutische Sitzungen zu tragen, wozu vielen Mitgliedern dieser Gruppe das Geld fehlt.

Grundsätzlich scheint die deutsche Regierung zu dieser humanitären Geste bereit zu sein, hinter den Kulissen wird derzeit offenbar an einer einvernehmlichen Lösung gearbeitet. Dabei geht es – bedenkt man die Milliarden, die bereits an Wiedergutmachung an die erste Generation und an NS-Zwangsarbeiter gingen – um relativ geringe Beträge: Die Organisatoren der Klage gehen davon aus, dass insgesamt nur 50 bis 100 Millionen Euro vonnöten sind.

Levy ist nicht überzeugt von dieser Klage – als er von ihr las, war er eher verärgert, sagt er. Einerseits, weil er meint, dass weltweit alle Menschen, die Opfer menschengemachter Katastrophen wurden, wenn nötig, kostenlose psychotherapeutische Hilfe erhalten sollten. Andererseits hört er sie schon jetzt, die Stimmen der Deutschen, die dann wieder einen neuen Anlass hätten, „Schluss jetzt!“ zu rufen. Es sind die, die schon immer einen Schlussstrich unter die Erinnerung an den großen Judenmord fordern. „Da habe ich keinen Bock drauf“, sagt Levy. Und wer sich ein wenig umhört unter Mitgliedern der „Second Generation“, stößt nicht selten auf ähnliche Kritik an der Klage in Israel – vielleicht auch, weil die psychische Betreuung von Patienten dieser Art hier in Deutschland durch das Krankenkassensystem etwas leichter ist.

Dabei brauchen Mitglieder der „Second Generation“ dringend Hilfe, auch in Deutschland. Manche von ihnen, beschreibt es Peter Fischer, rennen in der Bundesrepublik „von einer Therapie zur anderen“. Fischer ist Vorsitzender des Fördervereins von Amcha, einer israelischen Organisation, die sich um die psychische Betreuung der Holocaust-Überlebenden, der ersten Generation, in Israel kümmert – in der Bundesrepublik fehlt eine vergleichbare Organisation. Hinzu kommt, dass es hierzulande nach Auskunft von Amcha zu wenige Hilfsangebote für die Mitglieder der ersten oder zweiten Generation gibt. Und vernetzt sind sie kaum.

Levy behandelt in seiner Kölner Praxis rund zwei Dutzend Patienten der „Second Generation“. Seine Behandlungsräume sind niedrig und etwas unaufgeräumt, sie wirken warm, fast familiär. Levy kann gut zuhören, das Gespräch schwebt dahin, elegant wechselt er zwischen Konzentration und Komik, Anekdote und Analyse. Dabei ist ihm das Thema ernst, todernst – der Sache und der Patienten wegen: Einer von ihnen litt unter einem Waschzwang, er wusch sich hundert Mal am Tag die Hände, bis sie wund waren. Ein eher offensichtlicher Fall – andere sind hintergründiger: Wie viele Mitglieder der zweiten Generation beschäftigt Levy heute noch die große Trauer, die viele Eltern nach 1945 plagte: „Als Kind habe ich meinen Vater laut weinen hören.“

Der Züricher Ethnopsychoanalytiker Paul Parin, selbst dem Holocaust entronnen und Partisan im Zweiten Weltkrieg, analysierte schon Ende der Siebzigerjahre in einem Vergleich seiner schwulen und jüdischen Patienten, dass bei manchen Juden „depressive Gefühle, Angst, Scham“ geradezu „unvermeidlich“ erschienen. Wie Homosexuelle empfänden sich Juden als „Fremde“ in der Gesellschaft. Sie spüren keinen festen Grund unter sich.

Levy liebte seine Eltern, seine Augen strahlen, wenn er von ihnen – seine Mutter lebt noch – berichtet. Aber Konflikte gab es mehr als genug. Die Eltern waren oft nur zu überzogenen Emotionen fähig, etwa zu plötzlichen Wutausbrüchen. „Es gab kein Mittelmaß“, sagt Levy. Er erzählt von Familientreffen, wo man, auch er, rumschrie, weil der eine dem anderen vorwarf, eine Geschichte von damals nicht richtig zu erzählen. In anderen Familien war es im Gegensatz dazu nach dem Krieg nicht möglich, überhaupt Emotionen zu zeigen, war vielen das doch im Lager oder im Untergrund brutal abgewöhnt worden. Es wäre lebensgefährlich gewesen: Schwäche konnte den Tod bedeuten.

Dieses Hartsein und Härtezeigen hat auch nichtjüdische Deutsche und ihre Kinder in und noch nach dem Krieg geprägt – aber die Verfolgten des Naziregimes waren davon natürlich stärker betroffen: Levys Großonkel Benno wurde von der SA auf offener Straße erschlagen, dessen Bruder Heinrich in Auschwitz ermordet. Levys Vater kam aus einer angesehenen jüdischen Familie in Aachen, die deutschnational und sehr assimiliert war, seine Mutter entstammt einem christlichen, sozialistisch geprägten Umfeld, das Widerstand gegen die Nazis leistete.

Seinen Vater hat Levy einmal gefragt, wann er wirklich realisiert habe, wie schlimm die Nazis waren. Als er, wie alle Juden im Reich, nicht mehr Gitarre oder überhaupt ein Musikinstrument spielen durfte, war die Antwort. Nach dem Krieg bedurfte es nur einer Andeutung, und schon bekam Gert Levy von seinem Vater ein Gitarre geschenkt. Fotos von einem Auftritt des Therapeuten als Gitarrist in seiner Rock-Blues-Band schmücken in seiner Praxis eine Wand über seinem Computer.

Die Familie Levy floh 1937 nach Belgien und wurde dort nach der Invasion der Deutschen verhaftet. Levys Vater wurde in ein Internierungslager in Südfrankreich gebracht. Beim zweiten Mal gelang ihm die Flucht. Er schloss sich der Résistance an, wurde dort ein angesehener Experte für Plastiksprengstoff und war beteiligt an der Befreiung von Toulouse. Fotos von seinem Vater will Gert Levy zunächst nicht zeigen – „das ist mir zu heiß, die durch die Stadt zu tragen“. Es gibt nur etwa 20 Fotos mit seinen Eltern, schätzt er – jedes einzelne ist da sehr kostbar, so geht es vielen Mitgliedern der „Second Generation“.

Nach dem Krieg musste der Vater von Gert Levy feststellen, dass er in Deutschland nichts werden konnte. Viele Holocaust-Überlebende waren nach 1945 aber auch so traumatisiert, dass ihnen die Kraft zu einer Karriere im Nachkriegsdeutschland fehlte. Der daraus resultierende Geldmangel, aber auch die verlorenen Jahre im Lager hatten zur Folge, dass diese Familien oft nur ein Kind hatten – und diese Tochter, dieser Sohn musste dann meist größten Erwartungen gerecht werden. Bei vielen Überlebenden wurden „die gesammelten Wünsche, die man selbst sich nicht erfüllen konnte, auf die Kinder projiziert“, sagt Levy. Als er als Jugendlicher einmal nach Israel in einen Kibbuz reisen wollte, habe er „nur schwupp machen müssen“ – Levy schnippst mit dem Finger –, schon durfte er fahren.

Oft war das Kind solcher Eltern in fast pathologischer Weise der Mittelpunkt des Lebens – und die Sorge um das Kind folgerichtig völlig überzogen. Denn diesen Sohn, diese Tochter, den lebenden Beweis des Sieges über Hitler, wollten die Eltern nicht einmal in die Nähe von Gefahr bringen, „overprotecting“ nennt man dieses extreme Abschirmen. „Sie waren wahnsinnig fürsorglich und ängstlich um mich“, erzählt Gert Levy von seiner eigenen Familie. Hört man sich unter Kindern von Überlebenden um, gibt es etwa die typische Geschichte eines erwachsenen Mannes, dem die Mutter im Winterurlaub auf dem Lift hinterherfuhr, wenn er den Berg auf Skiern hinabglitt.

Levys Vater fand nach dem Krieg schließlich in der Kommission der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel eine höhere Position. Mit seiner Mutter sprach Gert Levy Deutsch, mit seinem Vater nur Französisch. Wie bei vielen Überlebenden fiel auch Levy in der Pubertät eine nötige Distanzierung von den Eltern schwer. Er habe diese Lebensphase nur mit vielen Lügen überstanden, erzählt Levy. „Da war ich fit.“

Und eine seltsame Konkurrenz konnte da entstehen: „Wir, die zweite Generation, können unsere Eltern ja in ihrem Leid, in ihrer Kraft und in ihrem Kampf zum Überleben nie toppen. Das werden wir nie schaffen“, meint er. „Das ist ein zentrales Problem in der innerfamiliären Auseinandersetzung.“ Ein typischer Satz. Wenn Levy von sich selbst oder seiner Familie erzählt, scheint er die Therapeutenposition einzunehmen. Dann sind Sätze zu hören wie: „Jetzt gehen wir mal genau da rein“, oder „Das nur eben als Bild behalten“.

Die „Second Generation“ erlebte ihre Eltern nicht nur als übermäßige Beschützer, sondern oft selbst als schutzbedürftig und schwach, ja wegen ihrer Traumata als kaum lebenstüchtig. Die Kinder wurden zu Ersatz-Eltern solcher Eltern, eine schwierige Position. Auch das kennt Gert Levy aus eigener Erfahrung: Nur durch eine beherzte Suche nach einem Arzt mitten in der Nacht hat er es als Achtjähriger einmal verhindert, dass seine Mutter an einer Angina starb. Sie konnte für ihn sorgen, für sich selbst aber nicht.

Das Prägendste aber war – ähnlich wie bei der Tätergeneration, wenn auch aus ganz anderen Gründen – das große Schweigen, das in den Familien der Überlebenden meist herrschte: „Bei meiner Mutter wurde nüscht thematisiert“, sagt ein Mitglied der „Second Generation“, „es gab immer nur Tränen, da verbot es sich, Weiteres zu fragen.“

Auch dieses Phänomen ist schon länger bekannt. Paul Parin: „Als die Kinder klein waren, wurde von den Verfolgungen nicht gesprochen; Angehörige, die dem Naziterror zum Opfer gefallen waren, wurden nie mehr erwähnt, gleichsam für inexistent erklärt. Massive Ängste der Eltern, die nicht verbalisiert und den Kindern gegenüber nicht zugegeben wurden, sickerten durch, färbten schon frühe Angstträume, die die Analysanden später erinnerten.“

„Wir wollen dich nicht belasten“, Sätze wie diese hörte auch Levy – und sie haben ihn natürlich belastet. Auch wegen dieser Erfahrung hat er mit anderen vor vier Jahren in Köln ein Erzählcafé gegründet, wo Schoah-Überlebende aus Köln und dem Umland Interessierten ihre Geschichte erzählen. Amüsiert erzählt Levy eine für diese Generation typische Anekdote über den früheren Botschafter der USA in Berlin, John Kornblum: Er brachte es, so wird kolportiert, erst kurz vor dem Flug in die deutsche Hauptstadt auf dem Flughafen fertig, seiner Mutter, einer Auschwitz-Überlebenden, zu erzählen, dass er Botschafter in Deutschland werde.

Es ist ein Schweigen innerhalb der Familie. Aber auch nach außen. Denn in Deutschland besteht ein immer noch großes Unverständnis gegenüber den Folgen einer „transgenerationellen Übertragung“, wie der Fachbegriff lautet. Es ist immer schwer, sich zu seinen psychischen Problemen zu bekennen – umso mehr im Land der Täter, wo Nichtjuden den Juden gern die Leiden der Deutschen im Bombenkrieg oder bei der Vertreibung vorhalten. Nach dem Motto: Wir haben doch genauso gelitten! „Meine Eltern sind ja auch vertrieben worden“, äfft Levy solche Leute nach. Das Offenbaren der psychischen Leiden vor Therapeuten, deren Familiengeschichte man nicht kennt, macht die Angelegenheit umso schwerer.

Levy ist Selbstmitleid fern, eine Heulsuse ist er nicht. Und doch konstatiert er: Die Vergangenheit wirkt lange nach. Den Mitgliedern der „Second Generation“, so sieht es Levy, fehlt häufig wegen ihrer frühen Konfrontation mit dem Überlebenskampf ihrer Eltern ein gewisses Maß in der Gestaltung ihres eigenen Lebens. Vielleicht, weil vor der Folie der Eltern ihr Leben irgendwie banal, ja fast langweilig wirkt: Oft kümmern sich die Kinder der Überlebenden weder um ihre Gesundheit noch um ihr Geld – noch um ihr Leben selbst. Sie suchen häufig die Gefahr und Extremsituationen, um sich selbst zu spüren. Sie gehen „in die Grenzbereiche des Lebbaren“, wie Levy es sagt. Typisch dafür seien etwa zwei Freunde von ihm, beides Ärzte, beide „Second Generation“: Der eine musste, nachdem er freiwillig während des Bürgerkriegs im Libanon praktiziert hatte, sofort in den von Nicaragua wechseln. Der andere arbeitet in Paris in jenen Noteinsatzteams, die gerufen werden, wenn größere Katastrophen vorgefallen und etwa Leichenteile einzusammeln sind, wie Levy sagt: Solche Arbeit in Extremsituationen sei für sie offenbar „ein Lebenselixier“.

In gewisser Weise sind die Mitglieder der „Second Generation“ immer noch auf der Flucht wie ihre Eltern, haben Angst vor Beständigkeit, diagnostiziert Levy: im Beruf, beim Wohnort, ja selbst bei Beziehungen. Einmal trennte sich Levy von einer Frau, weil er den Antisemitismus ihrer Verwandten nicht mehr ertrug. Ein anderes Mal hielt er, damals selbst Teil der Westberliner Linken, die linke Palästina-Begeisterung seiner Freundin nicht länger aus. Bei einer dritten Frau versuchte er lange zu übersehen, dass ihre Vorfahren, Banater Schwaben, während des Krieges bei judenfeindlichen Massakern mitgemacht hatten. Mit ihr – „eine tolle Frau!“ – schaute er sich Claude Lanzmanns „Shoah“ an, um diese Dinge mit ihr zu diskutieren. Nach der dritten Folge trennte er sich von ihr. Unklar muss bleiben, ob die Gründe für diese Trennungen unbewusst vorgeschoben wurden, ob bloß Bindungsangst herrschte.

Oder war es einfach Konfliktscheu? Mitglieder der „Second Generation“ vermieden Konflikte häufig, sagt Levy: „Alles wird weich gespült.“ Wenn er glaube, er werde finanziell übers Ohr gehauen, sei er wie gelähmt, reaktionsunfähig. Paul Parin schreibt überspitzt: „Unmittelbar auf den (wirklichen oder phantasierten) Angriff erlebten sie sich als klein, schwach, hässlich, entstellt, krüppelhaft, ekelhaft, manchmal als verdorben, verfallen, vergiftet.“

„Wir wollen keinen Streit“, sagt Levy. Es habe beispielsweise lange gedauert, bis er den Antisemitismus in Teilen der Westberliner Linken der Siebzigerjahre auch angeprangert habe, erzählt Levy. In einer Außenseiter-Rolle hätten sich einige Nachkommen von Überlebenden sogar regelrecht eingerichtet. Manche sähen sich dann von Feinden umringt: „Überall Antisemiten“, flüstert Levy mit leichter Ironie in verschwörerischem Ton.

„Häufig waren bei Juden nicht die eigenen Erfahrungen, sondern die der Eltern, die alle die Jahre der Naziverfolgungen und des Holocaust miterlebt hatten, für die Ängste und Befürchtungen maßgebend“, analysiert Paul Parin. „Ein Symbol, ein Kleinstes genügt, um die Verfolgung als unzweifelhafte Tatsache zu erleben.“ Manche Angehörige der „Second Generation“ zögen deshalb aus ihrer Familiengeschichte die Lehre, fachlich-intellektuell immer die Besten sein zu müssen, so Levy. Aber der eigentliche Kampf um die besten Positionen werde dann eher gemieden: besser nicht auffallen. „Wir stehen nicht gern im Vordergrund“, sagt Levy, „am liebsten bescheiden im Hintergrund, damit ja niemand mitkriegt, was wir tun.“

Die „Second Generation“ kommt nun, rein biografisch bedingt, in ein Alter, in dem alte Konflikte wieder aufbrechen, Kindheit und Jugend wieder näher rücken und manchmal ernüchternde Lebensbilanzen zu ziehen sind. Anlässe dafür sind etwa der Tod der Eltern, der Auszug der eigenen Kinder aus dem familiären Zuhause und das Ende des Erwerbslebens.

Depressionen können die Folge sein. Die Suizidrate unter Mitgliedern der „Second Generation“ ist höher als im Durchschnitt der Bevölkerung. Wie hoch genau, wird gerade untersucht. Levy wartet auf neueste Daten aus Israel, wo dies derzeit erforscht wird.

Der Patient, den Levy wegen seines Waschzwangs behandelte, kam mit seinem Leben trotz vielfältiger Hilfe irgendwann nicht mehr zurecht. Sein zwanghafter Alltag, das ewige Händewaschen, eine penibelste Zeiteinteilung führten schließlich dazu, dass ihm gekündigt wurde – der soziale Abstieg begann, verstärkte seine Zwangshandlungen noch. Eine Einweisung in die Psychiatrie aber, meint Levy, hätte dieser Patient als ein Einsperren in ein KZ empfunden. Vor einem halben Jahr hat er sich umgebracht.

Levy konnte ihm nicht helfen.

PHILIPP GESSLER, Jahrgang 1967, ist Reporter und Autor der taz