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Archiv-Artikel

Fahrlässig

Er spricht erstmals. Als Bürger der Stadt. Martin Ruoff, Vizechef des Prüfungsamts Stuttgart, das dem Bundesrechnungshof unterstellt ist, hält es für „fahrlässig“, ein Projekt wie Stuttgart 21 weiter zu finanzieren. An dem Projekt werde aber festgehalten, weil es um ein „sehr großes Infrastrukturprojekt“ mit lukrativen Aufträgen gehe

Interview von Josef-Otto Freudenreich

?Herr Ruoff, Sie sind bisher öffentlich nicht aufgetaucht in der S-21-Debatte. Was hat Sie zu diesem Schritt veranlasst?

In dem Protest steckt viel mehr als der Kampf um einen Bahnhof. Dahinter liegt der Wunsch nach einem ganz grundsätzlichen Umdenken hinsichtlich des Umgangs mit Ressourcen, hinsichtlich der Frage, ob und an welcher Stelle Wachstum erforderlich und gewünscht ist. Und natürlich die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung und einer entsprechend anderen Politik. Ich bin ein Bürger dieser Stadt.

Eine eher ungewöhnliche Sichtweise für einen Rechnungsprüfer, den man sich als Nur-Zahlenmenschen vorstellt.

Rechnen schließt Nachdenken nicht aus. Die Schlichtung vom vergangenen Jahr hat gezeigt, dass das Projekt S 21 mit erheblichen Mängeln behaftet ist. Deshalb hat Heiner Geißler viele Nachbesserungen gefordert und zur Befriedung des Streits eine – gemeinsam mit der Schweizer Firma SMA entwickelte – Kompromisslösung vorgeschlagen. Ich bin überrascht, mit welcher Vehemenz trotzdem an dem Projekt festgehalten wird. Das kann nicht nur mit einem neuen Bahnhof zu tun haben.

Jetzt sind wir gespannt, was Ihnen sonst noch einfällt.

Ich glaube, dass es im Kern um ein sehr großes Infrastrukturprojekt geht, bei dem neben den lukrativen Aufträgen für die Wirtschaft das städtebauliche Potenzial den Ausschlag gegeben haben dürfte. Warum wohl haben die S-21-Betreiber ihren Tiefbahnhof immer als absolut alternativlos dargestellt? In Zürich, wo mitten in der Stadt ein schöner Kopfbahnhof steht, sind nur ein paar Gleise unter die Erde gelegt worden. Während der Schlichtung war ich schon überrascht, dass dies auch in Stuttgart die Ursprungsidee war. Von fachlicher Seite. Aber anstatt von der Schweiz zu lernen, die mit ihrem integralen Taktfahrplan vormacht, wohin die Reise gehen müsste, hält man bei uns an einem veralteten Mobilitätskonzept fest.

Kleinmut hat noch nie Fortschritt gebracht.

Dem Projekt liegt das Denken aus einer ganz anderen Zeit zugrunde, in der das Geld der Steuerzahler noch nicht die Bedeutung gespielt hat wie heute. Heute eilen wir von einer Finanzkrise zur nächsten, und der Schuldenstand allein des Bundes beträgt mittlerweile 1,3 Billionen Euro. Dafür bezahlen wir jährlich rund 35 Milliarden Euro Zinsen. Deshalb hatte ich fest damit gerechnet, dass spätestens nach der ersten Finanzkrise 2008 das Aus für Stuttgart 21 kommen würde. Damals stand, laut Peer Steinbrück, die Welt am Abgrund. Es hat aber nicht nur mich überrascht, dass die Projektpartner wenige Monate danach, im Frühjahr 2009, die maßgebliche Finanzierungsvereinbarung unterzeichnet haben. So, als sei überhaupt nichts gewesen. Eine Vereinbarung im Übrigen, die – kaum vorstellbar – keinerlei Kündigungsbestimmungen enthält und um die jetzt so heftig gestritten wird.

Aber Sie müssen doch zugeben, dass die Chance einer „zweiten Stadtgründung“, wie Alt-OB Rommel meinte, Charme hat.

Was die Chancen einer zweiten Stadtgründung auf dem frei werdenden Gelände angeht, muss man wissen, dass die Stuttgarter, unter denen viele Architekten und Kreative sind, ihren Stadtoberen einfach keine vernünftige Stadtplanung zutrauen. Dazu ist in der Vergangenheit zu viel passiert. Denken Sie an die riesigen Autoschneisen mitten in der Stadt, den ursprünglich geplanten Abriss der wunderschönen Markthalle oder auch an die neue, viel zu wuchtige Stadtbibliothek. Auch aus diesem Misstrauen gegenüber der Stadt speist sich der Bürgerprotest. In diesem Zusammenhang habe ich auch nichts mehr von der Forderung von Heiner Geißler gehört, die frei werdenden Grundstücke der Grundstücksspekulation zu entziehen und in eine gemeinnützige Stiftung zu überführen.

Die letzte Hoffnung der Gegner nach der Volksabstimmung ist, so scheint es, jetzt noch die Kostenfrage. Die magische Zahl heißt 4,5 Milliarden Euro. Darüber soll Schluss sein. Was sagt der Rechnungsprüfer dazu?

Zu Stuttgart 21 hat der Bundesrechnungshof in seinem Bericht vom 30. Oktober 2008 – der im Netz steht – ausführlich Stellung genommen. Er hat dabei ein internes Gutachten des Bundesverkehrsministeriums herangezogen, welches sich mit der Baupreisentwicklung von Großprojekten befasst. In dem Gutachten wurde ausgeführt, dass bei Projekten mit bestimmten Risikofaktoren – zum Beispiel ein großer Tunnelanteil und/oder ein hoher Kupfer- und Stahlanteil – Preissteigerungen von bis zu 60 Prozent zu verzeichnen sind. Bei komplexen Großprojekten mit Gesamtkosten von über 100 Millionen Euro kämen auch Preissteigerungen von bis zu 100 Prozent vor. Vor diesem Hintergrund prognostizierte der Bundesrechnungshof bereits 2008 Kosten von deutlich über 5, 3 Milliarden Euro. Dabei ist der Bundesrechnungshof noch von den rund drei Milliarden Euro ausgegangen, die auch den Beschlüssen der Landesregierung und des Landtages von Baden-Württemberg vom Frühjahr 2009 zugrunde lagen. Noch im selben Jahr sind die Kosten des Projekts bereits um eine Milliarde nach oben korrigiert worden. Und mit dem Bau war da noch nicht mal angefangen worden. Warum sollten ausgerechnet bei Stuttgart 21 weitere Kostensteigerungen ausgeschlossen sein?

Die Menschen bewegt offensichtlich am meisten das Problem der Ausstiegskosten. Die einen sagen 1,5 Milliarden, die anderen 350 Millionen Euro. Was stimmt denn nun?

1,5 Milliarden Euro halte ich für zu hoch. Die Bahn hat während der Schlichtung von Ausstiegskosten in Höhe von rund 2,8 Milliarden Euro gesprochen. Die Wirtschaftsprüfer sind während der Schlichtung auf Ausstiegskosten von einer bis eineinhalb Milliarden Euro gekommen. Dabei wurde wohl aber auch berücksichtigt, dass die Bahn Kosten und entgangene Gewinne für Grundstücke geltend machen will, die sie im Augenblick noch für den Bahnverkehr benötigt.

Wie haben wir das zu verstehen?

Der Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht von 2008 festgestellt, dass durch das Projekt 140 Hektar Grundstücke in Stadtlage veräußerbar werden, die nicht mehr für den Eisenbahnbetrieb benötigt werden. Grundsätzlich gilt zwischen Bund und Bahn, dass Erlöse aus solchen Grundstücksverkäufen vom Finanzierungsanteil des Bundes abgezogen werden. Wohl um das Projekt nicht scheitern zu lassen, hat der Bund bei Stuttgart 21 auf eine entsprechende Anrechnung verzichtet.

Der Bund, das sind immer die Steuerzahler. Von welchen Summen reden Sie?

Der Bundesrechnungshof geht von Erlösen plus Verzinsung aus den Grundstücksverkäufen in einer Größenordnung von rund 1,4 Milliarden Euro aus. Das heißt, dass die Grundstückserlöse im Grunde wie Bundesmittel zu behandeln sind. Insofern habe ich erhebliche Mühe zu begreifen, wie die Bahn einen Schadenersatz daraus ableiten will, dass sie beim Scheitern des Projekts die Grundstücke für die Zwecke einsetzen muss, für die sie sie bei der Privatisierung der Bahn in den 90er Jahren vom Bund zur Verfügung gestellt bekommen hat.

Welche Ausstiegskosten sind dann Ihrer Meinung nach realistisch?

Das kann ich mit Bestimmtheit nicht sagen. Ich gehe aber davon aus, dass sie deutlich unter den Angaben der Bahn liegen. Ich halte die Diskussion über die Ausstiegskosten im Übrigen aber ohnehin auch für etwas verkürzt. Es ist doch nicht so, dass im Falle eines Scheiterns von Stuttgart 21 mit dem Kopfbahnhof in Stuttgart gar nichts mehr passieren wird. Der Aus- und Neubau der Strecke Wendlingen–Ulm ist seit den 80er Jahren ein wichtiges bundespolitisches Projekt, an dem nach meiner Einschätzung festgehalten wird. Unabhängig von der Frage, was in Stuttgart geschieht. Wenn Stuttgart 21 nicht kommt, wird es deshalb notwendig bleiben, den Kopfbahnhof zu modernisieren oder eine Kombilösung umzusetzen. Diese Vorhaben, die deutlich weniger Untertunnelungen benötigen, werden billiger zu realisieren sein als S 21. Diese Einsparungen müssen bei der Frage der Ausstiegskosten mitberücksichtigt werden.

Kann es sein, dass der Bundesrechnungshof von den S-21-Betreibern nicht sonderlich ernst genommen wird?

Zunächst muss man sagen, dass der Bundesrechnungshof ein Projekt, von dem man ahnt, dass es eine erhebliche Brisanz hat, geprüft hat. Das ist nicht selbstverständlich und kam auch nicht überall gleich gut an. Ich kann auch nicht sagen, dass der Bericht ganz unbeachtet blieb. Er ist ganz aktuell in der Begründung der Landesregierung zum S-21-Kündigungsgesetz erwähnt. Er unterstützt aber nicht unbedingt die Position der Befürworter, und insofern kann ich gut verstehen, dass er von dieser Seite nicht oft erwähnt wird.

Glauben Sie, dass die Landesregierung wirklich aussteigt, wenn der Kostendeckel gesprengt wird?

In dieser Frage scheint sich die grün-rote Koalition im Unterschied zur Frage des Nutzens des Projekts völlig einig zu sein. Das Land will sich an weiteren Kosten – zu deren Verteilung in der Finanzierungsvereinbarung bezeichnenderweise überhaupt keine Regelungen getroffen sind – nicht länger beteiligen. Das halte ich für vernünftig, und das hat meines Erachtens auch überhaupt nichts damit zu tun, wie man zu Stuttgart 21 steht. Ich bin der Meinung, dass es fahrlässig wäre, als Finanzierungspartner ein Projekt weiterhin zu unterstützen, das solche Risiken birgt.

Was haben Sie aus der Debatte über S 21 gelernt?

Dass Großprojekte in dieser Art und Weise nicht länger zu realisieren sind. Dazu sind mittlerweile viele Bürgerinnen und Bürger insbesondere aufgrund des Internets viel zu gut informiert und vernetzt. Das heißt für mich aber noch lange nicht, dass Großprojekte oder andere hochstrittige politische Entscheidungen in Zukunft überhaupt nicht mehr umgesetzt werden können. Sie müssen einfach anders vorbereitet werden. Wichtig dabei ist vor allem, dass von Anfang an ernsthaft über die jeweiligen Alternativen nachgedacht und diskutiert wird. Es gibt immer Alternativen, auch wenn Entscheidungsträger gerne das Gegenteil behaupten. Und als zurückgekehrter Schwabe habe ich die Stadt mit der bunten Debattierfreudigkeit ihrer Bürger erst so richtig schätzen gelernt.