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Archiv-Artikel

Zertifizierte Fairness

’68? Ein Phantom irgendwie. Und doch so real, ja menschlich. Besonders mitten in der Provinz

VON ARNO FRANK

Er trug selbst gestrickte Pullover, seine Unterlagen in einer abgewetzten Ledertasche mit sich herum und einen prächtigen Rauschebart mitten im rosig-runden Gesicht. Er hatte strubbeliges, leicht angegrautes Haar, freundliche Augen, eine sanfte Stimme mit pfälzischem Zungenschlag, unterrichtete Biologie an meinem altsprachlichen Gymnasium – und war der erste Achtundsechziger, den ich bewusst als solchen wahrgenommen habe. Einfach weil er genau so aussah, wie ich mir diese geheimnisvolle Spezies vorzustellen pflegte.

In Kaiserslautern gab es 1968 eine technisch orientierte Universität, an der die Studentenbewegung deshalb weitgehend vorbeiging. Dabei gab es in Kaiserslautern rund 60.000 US-Amerikaner, die auf dem nahe gelegenen Luftwaffenstützpunkt Ramstein die imperialistischen Bomber mit Bomben beluden. In Kaiserslautern wurde am 22. Dezember 1971 bei der Kontrolle eines offenbar zu Recht „verdächtigten“ Fahrzeugs der Polizeiobermeister Herbert Schoner erschossen, weil er zufällig in einen RAF-Überfall auf die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank geraten war. In Kaiserslautern gab es überhaupt sehr wenig, aber das mit einem idyllischen Wald drum herum.

’68 war ein Theaterstück, das überwiegend in den Metropolen gegeben wurde. Kaiserslautern war tiefste Provinz; allein nach Frankfurt sind es 100 Kilometer. Und so kam es, dass mir der geduckte Karrierismus meines Vaters und die Kriegserinnerungen meines Großvaters wesentlich präsenter waren, als es „die Achtundsechziger“ und ihre Ideale je hätten sein können.

Ich vermag nicht einzuschätzen, in welchen Kindergarten meine KlassenkameradInnen geschickt wurden. Sehr wohl aber habe ich auf dem Gymnasium meiner Heimatstadt recht rasch erfahren dürfen, was „Klassen“ sind, welcher ich mich zugehörig fühlen darf – und welcher nicht.

Damals, Anfang der Achtziger, hätten mir „die Achtundsechziger“ ferner nicht sein können. Dabei hatten sie zu diesem Zeitpunkt schon Lehrstühle an der Universität inne, leiteten Architekturbüros, waren als Anwälte oder Psychiater tätig. Angekommen also. Erst später ging mir auf, dass ich mit einigen ihrer Kinder auf die Schule ging, und noch später, dass ich von manchen dieser „Achtundsechziger“ benotet wurde. Aber da war es schon zu spät.

Die Kinder der Achtundsechziger waren zunächst an ihren Eltern zu erkennen. Da waren Väter, die Bücher von Hoimar von Ditfurth lasen, die Hoimar von Ditfurth persönlich kannten, die auch mal einen Joint drehen und dabei geduzt werden wollten. Da waren Mütter, die weite Gewänder trugen, im Schneidersitz meditierten, zu Vorträgen von Eugen Drewermann pilgerten und Geige unterrichteten.

Und da war immer Geld, ohne dass Geld in diesem von protestantischem Ethos durchdrungenen Milieu je ein Thema gewesen wäre. Die angekommenen Achtundsechziger zogen ihre Kinder in prächtigen Häusern mit Waldgrundstück auf, oft entworfen von befreundeten Architekten. Man baute verwinkelt, aber ohne einen rechten Winkel, mit viel Holz, märchenhafte kleine Ökoresidenzen, in denen es nach Patschuli duftete, Kinderträume mit angeschlossenen Gärten, verwildert, natürlich. Offene, funkelnde Inseln der Individualität waren das, nicht die üblichen eternitverkleideten Festungen hinter ihren Jägerzäunen. In der Auffahrt stand immer ein Volvo-Kombi neben der alten roten Ente, liebevoll gepflegt seit seligen Studententagen. Und im Wohnzimmer nie, nie ein Fernseher.

Kinder aus solchen Elternhäusern wurden nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht special people oder, abfälliger, Ökos genannt, weil sie sich in jeder Hinsicht von den normal people mit ihren normalen Bedürfnissen unterschieden. Bei ihnen konnte man die Hausaufgaben abschreiben – und sich abschauen, dass Respektlosigkeit auch eine Tugend und Renitenz „kreativer Ungehorsam“ sein kann. Dieses aufreizend aufgeklärte Verhalten zog vor allem bei jenen links gepolten Lehrerinnen und Lehrern, die selbst entsprechend sozialisiert waren und durchaus dazu neigten, ihresgleichen nach Kräften zu protegieren.

Die Kinder der Achtundsechziger hießen nicht Klaus, Sandra oder Volker. Sondern Aljoscha, Ursina oder Roderich. Mit Aljoscha, Ursina oder Roderich wollte man befreundet sein. Auch frühe Kinder waren hier keine Katastrophe, sondern stets willkommen. Ihre Eltern empfingen ja auch kein Arbeitslosengeld, sie trugen keine abgelegten Klamotten vom Sozialamt, sondern teuer zertifizierte Fairness. Wer aber in einer Mietskaserne wohnte oder einem anderen, nicht wirklich kompatiblen sozialen Umfeld entstammte, den behandelten sie nicht mit Hohn, dazu waren sie zu gut erzogen, sondern mit freundlicher Missachtung.

Die Kinder der Achtundsechziger waren die Ersten, die mit „Atomkraft? Nein danke!“-Buttons in die Schule kamen. Sie konnten das komplette Beatlesrepertoire auf der Querflöte nachspielen und ernährten sich gesund. Ihr politisches Selbstbewusstsein führte naturgemäß dazu, dass sie in der Schülervertretung wichtige Funktionen übernahmen. Sie waren es, die bei Theateraufführungen am weitesten aus sich heraustreten und das „Gespenst von Canterville“ nicht nur spielen, sondern auch verkörpern konnten. Sie waren es, die bei Demonstrationen „auf dem Marktplatz standen und auf sich selbst hinwiesen als die Besseren“, um mit Uwe Johnson zu sprechen.

Sie waren es, die zum Zeichen ihrer Verachtung jeder Form von Materialismus ihre Jugendzimmer in ihren herrlichen Villen radikal leer räumten – bis auf die Matratze und einen Ibanez-Bass nebst Verstärker für 9.000 Mark. Sie waren es, die ihrer existenzialistischen Verachtung der Segnungen der Konsumgesellschaft dadurch Ausdruck verliehen, dass sie sich die teuersten Designerjeans kaufen ließen – um sie gewendet anzuziehen, hübsch subversiv, mit der Naht nach außen. Sie waren es, die allen anderen ein latent schlechtes Gewissen bereiteten – weil sie so waren, wie sie waren, allseits gefördert, bestärkt, ermuntert. Was auch immer aus der Not heraus man selbst sein wollte, Punk, Grufti, Neohippie – sie waren es bereits, hatten alle Subkulturen schon besetzt, aus einer Laune heraus.

Der Biolehrer erklärte eines Tages, er wolle die folgende Schulstunde nutzen, um uns über seine politischen Aktivitäten aufzuklären. Wir sollten Fragen stellen dürfen, falls wir etwas nicht verstehen sollten. Total nett. Lässig lehnte er an seinem Pult und eröffnete uns, er sei Leutnant der Reserve und als solcher an Manövern an der innerdeutschen Grenze beteiligt. Dort seien Betonröhren vergraben, vollgestopft mit Dynamit, um sie bei einem Angriff der Nationalen Volksarmee in die Luft zu sprengen: „Die Roten kommen nicht durch“, beruhigte er uns zufrieden, „keine Chance.“

Nicht Neid war die Reaktion normaler, also „normverhafteter“ Kinder auf diese Leute und ihre Brut. Sondern ein Argwohn, den ich als „gesund“ bezeichnen will. Der Mensch, er ist dem Menschen ein Wolf, das weiß man – besonders dann, wenn er sich in Schafwollpulloverpelze kleidet.

Arno Frank, Jahrgang 1971, ist Redakteur von tazzwei. Es geht ihm gut