: EINE VERRÜCKTE WELT
■ „Orlando“ von Georg Friedrich Händel mit der Berliner Kammeroper
Von „Orlando furioso“ (Ariost), von Orlando also, dem rasenden sowie verschmähten, letztlich sich in den Wahnsinn stürzenden, melancholischen Ritter erzählt Händels Oper.
„Wahnsinn“ auf der Opernbühne, eine Herausforderung an den Komponisten vor ca. 250 Jahren, aber auch an den Regisseur heute, der hierfür eine glaubwürdige Form zu finden hat. Eine Herausforderung letztlich auch an den Titelhelden, plausibel musikalisch und darstellerisch das umzusetzen, was die - in der Tat bewegende - Musik Händels vorgibt.
Während der Ouvertüre betritt Orlando den Steg auf der Bühne, auf dem später die Handlung abrollen wird - mit einer Pistole. Fast gegen Ende der Oper richtet er die Waffe gegen sich.
Der den äußeren Handlungsrahmen angebende Konflikt zwischen Orlandos Rittertum und seiner nicht erwiderten Liebe zu Angelica ist bestimmend für seinen krankhaften Werdegang. Vorgestellt wird Orlando in Henry Akinas Inszenierung von seinem ersten Auftreten an, als entrückter, mehr oder weniger der Realität abhanden gekommener Charakter. Aus einer lichtdurchfluteten Seitentüre tritt er heraus, verharrt eine kurze Weile im Gegenlicht, sein Arioso singend. Er scheint aus einer anderen Welt zu kommen, herein in die Welt, die der Bühnenraum Folker Ansorges scharf umreißt, eng, bedrückend, äußere Beklemmung suggerierend. Durch ockerfarbene Neonrohrkonstruktionen werden vier Rechtecke, das größte davon ein Würfel, in den Bühnenraum projeziert. Trotz der Drastik des Bildes gelingt Ansorge eine dezente Form, die Unterkühlung jener Welt zu schildern, die Orlando so ganz unritterlich, wenig mutig betritt.
Einmal betrachtet sich Orlando in den Zerrspiegeln, die den hinteren Bühnenraum abgrenzen. Wenn sie sich öffnen, geben die die Tiefe des Raumes frei, aus dem Zoroaster, der Magier (mit dem schwarzen Baß: Ian Comboy) tritt. Dazu ist er der Raum, in den Angelica (Mieko Kanesugi) in letzter Not vor Orlando flieht. Angelicas Flucht ist das Zeichen für Orlando; hier kippt er vollends, sein Wahnsinn bricht gerade hier offen aus.
Seine seelische Raserei vollzieht sich musikalisch zunächst in stillen, leisen Tönen. Später charakterisiert die Form, der häufige Affektwechsel kurzer arioser Teile, das Entrücktsein, das Haltlose Orlandos. Christopher Robson füllt nicht nur diesen Teil seiner Rolle mit größter darstellerischer und musikalischer Präsenz; den kahlen Kopf leicht nach vorne gehalten, immer auf der Suche, mit fremden, schönen Tönen.
Die für uns heute befremdlich anmutende hohe Männerstimme des Countertenors entsprach im 18. Jahrhundert der Norm; die Rolle des Protagonisten war häufig einem Kastraten zugedacht. In der Aufführung der Berliner Kammeroper bekommt dieser Effekt einen anderen Zusammenhang, er wird gleichsam gebrochen. Die Auffassung der Titelrolle hat weder in Akinas Regie noch in Robsons Darstellung irgendetwas „barockes“. Dem Bild, welches das Kostüm Orlandos vermittelt (Kostüme: Folker Ansorge) - grüne Militärhosen, Militärstiefel, ein zerrissenes T-Shirt, als Waffe kein Schwert, sondern Pistole und Schlagstock - entspricht die insgesamt „reale“ Auffassung des Leidens.
Die Geschehnisse nach Orlandos Wahnsinnsszene kehren, in der psychologisierenden Sicht Akinas, sein Innenleben nach außen. Der Fortgang der Handlung wird als Traumsequenz, als Orlandos Visionen gedeutet.
Das Orchester der Berliner Kammeroper und Brynmor Llewelyn Jones klingt gelegentlich etwas müde, greift dann intensiver in das Geschehen ein, Robson in seinen klanglich diffizielen Partien zu unterstützen.
Irena Bart-Greiner als Dorinda ist - ebenfalls vergeblich Liebende - das melancholische Pendant zu Orlando. Nobel der hellgefärbte Bariton Andrew Hambley-Smith, als Medoro. Wen wundert's, wenn beide Frauen ihm hinterherlaufen. Übrigens Orlando schießt nicht. Letztlich wird er von seinem Wahnsinn befreit; Zoroaster setzt ihm eine Spritze, Orlandos Weggenossen während der Oper versehen ihn erneut mit seinen ritterlichen Attributen. Orlando ist wieder wer.
Anno Mungen
Weitere Vorstellungen im Renaissance Theater Studio, jeweils um 20 Uhr 22.-24.11., 26./27.11. und 29./30.11.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen