: Dauerstreß rund um den hohlen Zahn
■ Vorboten der Gesundheitsreform: Dem Run auf die Zahnärzte folgte die Verdoppelung der Arbeit in den Dentallabors / Überstunden, gereizte Nerven, vertauschte Gebisse und Reklamationen / „Die Reform ist ein Hammer“
Noch zwei Wochen günstige Prothesen im Angebot Zahntechniker am Ende, so läßt sich die absurde Situation rund um den Zahnersatz vor der sogenannten Gesundheitsreform, die ab Januar in Kraft tritt, umschreiben. Bereits seit Monaten müssen die Angestellten der Zahnlabors sie ausbaden. Dennoch: In den letzten Wochen der Umsatzverdoppelung wollen sich die Labors nicht mehr ins Handwerk pfuschen lassen. „Da sagt ihnen keiner was. Wir haben wegen der Überstunden schon die Gewerbeaufsicht im Nacken.“ Doch im Gegensatz zu vielen Kollegen empfängt mich H.J.Hinkst, Chef in einem kleinen Laboratorium, freundlich: „Nehmen Se mal gleich neben dem Gebiß Platz.“ Er flucht über die „Schweinegangster an den Schaltstellen“ und faßt den absurden Boom in seinem Gewerbe zusammen: „Im reichsten Land der Welt ist eine Hysterie ausgebrochen, als gäbe es morgen keine Prothesen mehr.“
Die Reform, mit der Blüm 14 Milliarden Mark sparen will, kommt den Patienten teuer zu stehen, denn der Eigenanteil für den Zahnersatz (Prothesen, Kronen und Brücken) wird sich ab dem 1.1. 1989 verdoppeln. Bei kieferorthopädischer Behandlung muß der Patient ein Viertel der Kosten selbst tragen und sieht das Geld auch nur dann wieder, wenn er die Behandlung beendet. Blüms Bonbon ist ein „Bonus für Mundhygiene“, bei dem das Schuldprinzip am drastischsten stinkt. Wer sein Gebiß gepflegt hat, bekommt eine gute Note vom Zahnarzt und einen höheren Zuschuß. (wünsche dir viele kinderchen, bei denen die frage der kosten für kieferorthopädische behandlung keine der mundhygiene ist, lieber blüm. ein sezza, der weiß, wovon er spricht.) Unterm Strich urteilt Hinkst: „Die Reform ist ein Hammer.“
Um den höheren Kosten zu entgehen, haben Patienten, die sich lange vor Bohrern und Zangen gedrückt haben, ein letztes Mal die fälligen Zähne fest zusammengebissen. Dem Run auf die Ärzte folgte die Verdoppelung der Laborarbeit, wo seit Monaten nachts und an Sonn- und Feiertagen geschuftet wird. 16 Stunden schafft der Chef und zwölf seine zwei Angestellten. Michael nimmt die Staubmaske ab und stöhnt: „Die Errungenschaften der Arbeiterbewegung kannste hier vergessen.“ Zahnarzthelferinnen berichten von vertauschten Gebissen und Reklamationen. Bei der Überbeanspruchung können die Techniker nicht nur Qualitätsarbeit liefern. Die Laboranten prognostizieren eine Welle von Wiederholungsarbeiten.
Um die Situation zu entspannen, kam eine Übergangsregelung auf den Tisch. Alle bis zum 17.Dezemberbegonnenen Behandlungen sollten nach den alten Sätzen abgerechnet werden können. Zahnarzthelferin Gabi: „Noch immer ist unklar, ob die Übergangsregelung gilt, kein Mensch blickt mehr durch. Auch die Krankenkassen sind völlig entnervt.“
Petra Schrott
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