: Zwei Paar Schuhe
■ Polen will keine Reparationen, Kohl aber keine Entschädigungen für Zwangsarbeiter
Die Bundesregierung hat eine Entschließung beider deutscher Parlamente zur Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze davon abhängig gemacht, daß die polnische Seite keine Reparationsforderungen mehr erhebt. Eigentlich dürfte dieses Thema keine Rolle mehr spielen, denn Polen hat 1953 gegenüber der DDR erklärt, daß es mit dem Stichtag 1.1.1954 auf weitere Reparationen Deutschlands (ausdrücklich: Deutschlands) verzichte. Im vierten Abschnitt des Potsdamer Abkommens war 1945 von den Siegermächten festgelegt worden, daß die UdSSR und Polen ihre Ansprüche durch Demontagen bzw. durch Entnahmen aus der laufenden Produktion in der damaligen sowjetischen Besatzungszone befriedigen sollten. Außerdem wurde den beiden Staaten zehn Prozent der Industrieanlagen in den westlichen Besatzungszonen zugestanden, eine Zusage, die nie erfüllt wurde.
Nach westlichen Berechnungen leistete die sowjetische Besatzungszone beziehungsweise die spätere DDR über 13 Milliarden Dollar Reparationen. In den Westzonen regelte das Pariser Reparationsabkommen die Verteilung auf die westlichen Alliierten. Der Kalte Krieg und anhaltende Proteste der Belegschaften führten bereits im Jahr 1947 zur Unterbrechung und 1950 zur endgültigen Beendigung der Demontagen im westlichen Deutschland. Mit dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 wurden seitens der Bundesrepublik alle Zahlungen Richtung Westen eingestellt. Dieses Abkommen regelte im Kern die Verbindlichkeiten des Deutschen Reiches aus den Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg. Außerdem ging es um Verbindlichkeiten aus früheren Anleihen und die Rückzahlung von nach dem Zweiten Weltkrieg geleisteter Hilfe. Die auf weniger als ein Drittel herabgesetzte Schuld konnte die BRD im Verlauf eines Jahrzehnts begleichen.
Mit dem Schuldenabkommen verzichteten die Westmächte und eine Reihe weiterer Staaten auf Reparationsforderungen im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Ausdrücklich nicht geregelt wurden im Londoner Schuldenabkommen Ansprüche von Ländern außerhalb der „westlichen“ Hemisphäre, die durch die deutsche Besatzung Schaden erlitten hatten. Die Abgeltung ihrer Forderungen wurde auf die Zeit nach Abschluß eines Friedensvertrags verschoben. Länder, die dem Londoner Schuldenabkommen nicht beigetreten sind, wie zum Beispiel Albanien, haben also nicht darauf verzichtet, künftig Forderungen anzumelden.
Polens Verzicht auf Reparationsleistungen folgte 1953 nolens volens der Politik der Sowjetunion, die DDR zu stabilisieren und ihr Projekt eines vereinten neutralisierten Deutschlands nicht durch weitere Ansprüche zu gefährden. Entsprechend hieß es in der damaligen polnischen Erklärung, sie sehe in dem Verzicht „einen weiteren Beitrag zur Lösung der deutschen Frage im Geist der Demokratie und des Friedens, in Übereinstimmung mit den Interessen des polnischen Volkes und aller friedliebenden Völker“. Ausdrücklich nicht von dem Verzicht auf künftige Reparationsleistungen betroffen sind die Ansprüche, die die ins Deutsche Reich verschleppten bzw. in den besetzten Ländern eingesetzten Zwangsarbeiter gegen ihre ehemaligen privaten und öffentlichen „Arbeitgeber“ erheben.
Es hat in den vergangenen Jahren von seiten der Grünen und vereinzelter Sozialdemokraten Versuche gegeben, diesen jetzt in der Regel von Minimalrenten lebenden Menschen wenigstens eine einmalige Zahlung in Devisen zukommen zu lassen. Schuldner wäre der Bund, der anschließend gegenüber den Firmen bzw. Behörden Ansprüche erheben könnte. Diese Initiativen, von der polnischen Regierung aufgegriffen, wurden von den Regierungsparteien und führenden Sozialdemokraten unisono abgeschmettert. Sollte die Bundesregierung mit der Forderung „Verzicht auf Reparationen“ tatsächlich mehr meinen als eine nochmalige Bekräftigung der polnischen Erklärung von 1953, könnte sich dieses „mehr“ nur auf die Forderungen der Zwangsarbeiter beziehen. Einem solchen Ansinnen könnte die polnische Regierung schon aus innenpolitischen Gründen nicht zustimmen, von der moralischen Dimension ganz zu schweigen.
Mittlerweile hat auch der polnische Verband der Opfer des Dritten Reiches seine Rechnung aufgemacht. Indem er die Forderungen der 2,5 Millionen Zwangsarbeiter mit Forderungen der Ex-Kriegsgefangenen, der zivilen Invaliden sowie der Witwen und Nachkommen der durch die deutsche Okkupation ums Leben gekommenen Polen vermischt, hebt er praktisch den Reparationsverzicht von 1953 auf und konfrontiert die BRD mit Entschädigungsforderungen von 500 Milliarden Mark. Die entsprechende Gegenrechnung der Vertriebenenverbände wird nicht auf sich warten lassen.
Christian Semler
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