: Der Eieranschluß ist vorbereitet
■ Bundesdeutsche Unternehmensgruppe steigt risikolos in DDR-Kombinat ein / Musterbeispiel für die Zukunft der sozialistischen Industrie / Unfähige Kombinatsleitung als Wegbereiter
Einst lag der Ort am Rande des „sozialistischen“ Wirtschaftsblocks. Heute befindet er sich im Zentrum eines deutschen Marktes. Nur wenige Kilometer von der DDR -Staatsgrenze entfernt, werden in Deersheim Eier produziert.
Eigentlich geht es um deren Eltern, um Hühner und deren Schlupf. Zweiundzwanzig Millionen weiße Leghornhennen im Lande DDR haben ihren Ursprung mehr oder weniger direkt in Deersheim, wo in den 70er Jahren eine gigantische industriemäßige Zucht aufgebaut wurde. Die Abnahme war über das Kombinat gesichert, der Kauf über den Großhandel, der Verbrauch über den Einzelhandel. Weißschalige Eier wurden von den Direktoren des Kombinates Industrielle Tierproduktion als realsozialistische Alternative zu den marktgerechten braunschaligen verordnet. Sie sollten bis in die lichte Zukunft den Eieralltag in ihrem Imperium bestimmen. Das soll nun vorbei sein, nach dem Willen derselben Leute, die ihre Strategieunfähigkeit hinreichend unter Beweis stellten.
Schlußstrich also unter die 20jährige Zuchtarbeit. Ein Aus dem angesiedelten Fachpersonal und deren Arbeitsergebnissen. Die einstmals verschriebene Roßkur hatte das Dorf an Freud und Leid des realen Sozialismus teilhaben lassen: Arbeit für alle, moderne Wohnhäuser, Sport-, Freizeit- und Sozialeinrichtungen bei nitratverseuchtem Grundwasser und verfallenem Siedlungskern des 1.000jährigen Ortes. Vor allem aber eine gewaltige Machtkonzentration, die allen im Dorfe stets gegenwärtig war. Nach der Krenzschen „Wende“ wurde dafür die Rechnung präsentiert. Doch bereits zur Karnevalszeit war es mit der Aufmüpfigkeit vorbei. Die Kritik am „System“ geriet dafür umso härter, je allgemeiner sie war. Niemand brauchte sich so recht angesprochen zu fühlen.
Und jetzt geht das Schweigen um in Deersheim. Die Kombinatsmonopolisten (Ost) und die Lohmann-Gruppe Cuxhaven (West) planen einen Coup, der an die Substanz der nahezu 20jährigen Geschichte des Linienzuchtbetriebes geht. Da verbietet sich Kritik, denn die Angst um den eigenen Arbeitsplatz bestimmt das öffentliche Auftreten. Die Selbstzensur war ohnehin die entwickeltste Identität des Deersheimer Neoproletariats. Die geduckte Mannschaft geht in die Knie, wenn die Allmächtigen ihre Verhandlungsergebnisse präsentieren. Gewerkschaft, neue und alte Parteien schweigen. Die realen Verhandlungen sind so streng geheim, wie es ihre Ergebnisse in sich haben. Sicher ist, Deersheim wird seine Zucht vollkommen einstellen müssen. Dafür darf es Großelterntiere halten, um das Gebiet der DDR mit Elterntieren für braunschalige und für weißschalige Eier beliefern zu können. Die Lohmanngruppe sichert sich damit die Abhängigkeit der nunmehrigen Tierproduzenten, die jährlich um die Großelterntiere feilschen werden. Ein möglicher Konkurrent ist für immer weg vom Fenster.
Ein weiteres Ergebnis: Die Produktionskosten und -risiken werden in die DDR verlagert, wobei der BRD-Markt prinzipiell verschlossen bleibt. Nur auf Bedarf wird Kooperation die Belieferung einschließen. Bei dem permanenten Preisdruck gerade auf die Produzenten ist das für Lohmann die ideale Situation. Die bittere Pille ist für die Deersheimer bestimmt, denn Personal- und Sozialabbau sind zwangsläufig. Der rückläufige Eierverbrauch, der mit der Zunahme des Eierimportes in die BRD einher geht, macht deutlich, welche Rolle die Vermarktung innehat.
Die Ausschaltung des Konkurrenten Deersheim sichert den Machtzuwachs der Lohmann-Gruppe bis weit in den osteuropäischen Raum. Die eindeutige Bevorzugung des Verhandlungspartners Lohmann enthob die Ostmanager der Sorge, sich ernsthaft dem Markt zuzuwenden. Offensichtlich hatten die fremdsprachenunkundigen „Wirtschaftskapitäne“ erhebliche Schwierigkeiten bei der Interessenvertretung des ihnen anvertrauten Volkseigentums. Französische, niederländische und US-amerikanische Verhandlungspartner mußten daher ebenso das Nachsehen haben wie die DDR-Bürger, die den Machtzuwachs der Lohmann-Gruppe finanzieren. Das weiße Leghorn könnte vom Symbol des DDR-Größenwahns zum Symbol des Widerstandes werden. Derzeit scheint eine solche Perspektive illusionär. Dafür garantieren geschlossene Türen, gebrochene Menschen und bornierte Untertanen von Kapital und Anschlußpraktikern.
Einige der ehemals „sozialistischen Leiter“ haben vielleicht Aussichten auf Pöstlein im neuen Lohmann-Europa. Das „Volkseigentum“ bot ihnen Gewähr für ein annehmbares Brautgeschenk. Das Nachsehen haben die Züchter und die Produktionsarbeiter von Deersheim und anderswo in der DDR. 16 Millionen DDR-Bürger sollen so dem Hühnerriesen West zugeschlagen werden, dessen Wirtschaftskraft die politischen Entscheidungen in Fragen Tierschutz und anderem gewißlich nicht unbeeinflußt lassen werden.
Dietmar Behrend
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