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Die Estnische Volksfront steckt in einer KRISE

Interview mit Ott Sandrak, Tallinns Vorsitzender der „Estnischen Gesellschaft für Denkmalpflege“  ■ I N T E R V I E W

taz: „Eigentlich geltet ihr Esten als sehr starke Nationalisten, da wundert es mich, daß eure Volksfront im Gegensatz zu der litauischen so schwach bei den Wahlen abgeschnitten hat.“

Ott Sandrak: „Bei uns ist das Nationalbewußtsein stärker strukturiert und nicht nur in der Volksfront verankert. Es ist ganz gut, daß sie nicht gesiegt hat, denn sie steckt in einer sehr kritischen Situation. Führung und Basis haben sich voneinander entfernt. Die Volksfront droht zu einer Liga der Partei zu werden. Das wiederum lehnen große Teile der Basis ab.“

„Es gibt ja auch andere Aktivitäten zur Unabhängigkeit, die nicht von der Volksfront initiert wurden.“

„Ja, am 2. 2. 1990 fand auf Einladung des Präsidenten Rüütel und des Ministerpräsidenten Toome eine Generalversmlung aller Abgeordneten Estlands, Abgeordneten aller parlamentarischer Gremien, statt. Die 3.207 Abgeordneten gedachten des 70. Jahrestages des Vertrags von Tartu, mit dem die einstige Republik Estland ihre Eigenstaatlichkeit erlangte. Mit der Zustimmung von 3.090 Abgeordneten wurde eine Deklaration zur nationalen Unabhängigkeit verabschiedet.“

„Die habe ich gelesen. In ihr heißt es zum Beispiel: „Die Generalversammlung versichert: Unser Kampf für eine unabhängige Eigenstaatlichkeit Estlands ist ausschließlich friedlich, benutzt nur demokratische Mittel und geschieht im Geiste der Zusammenarbeit mit allen Gruppierungen, deren Tätigkeit nicht im Widerspruch steht zu demokratischen Grundsätzen und zu den Normen des Völkerrechts.“ Das heißt ja im Klartext, daß der litauische Weg nicht in eurem Blickfeld liegt.“

„Wir haben die Konfrontation schon im Land. Wir müssen sie nicht noch ausweiten. Wir sind der Meinung, daß Estland noch existiert, man muß es nicht wiedergründen und das noch einmal deklarieren. Wir wollen uns auch nicht weiter der aufgezwungenen Strukturen bedienen. Der Oberste Sowjet ist nicht unser parlamentarisches Gremium. Darum sind die Wahlen auch nicht so wichtig gewesen.“

„Aber noch einmal zurück zu Litauen...“

„Kennst du das litauische Wappen, den Reiter mit dem Schwert?

So benehmen sie sich gerade. Sie denken, bei uns ist alles klar, vorwärts. Ähnlich war es bei ihnen auch 1918. Zuerst ging alles sehr gut, aber dann standen sie ohne ihre Hauptstadt da. Sie müssen uns auch immer vorhalten, daß sie einmal einen großen Staat hatten und ihre Grenzen bis an das schwarze Meer reichten. So etwas haben wir, die Esten und die Letten, ja nie gehabt. Aber Ironie beiseite, es wäre sehr wichtig, daß wir Esten und die Letten jetzt offizielle Sympathieerklärungen für die Litauer abgeben. Und zwischen uns gibt es ja immer so eine Art Konkurrenz, wer macht als nächster einen Schritt in Richtung Unabhängigkeit.“

„Also, ihr wolltet parlamentarische Mittel benutzen, zum Beispiel den Estnischen Kongreß.“

„Die Gesellschaft für Denkmalpflege, die Estnische Partei zur Nationalen Unabhängigkeit und die Estnische Christliche Union haben im letzten Jahr begonnen, Wahlen für dieses neue parlamentarische Gremium vorzubereiten. Die Volksfront war sehr dagegen. Sie meinte, daß die Bürgerkomitees für den Kongreß eine Art Gegenfront darstellten. Sie hat die Vorbereitungen sehr behindert. Aber zum Schluß ließen sich die Führer, wie Savisaar, auch für den Kongreß wählen. Da haben wir dann mit überwältigender Mehrheit den Weg zur nationalen Unabhängigkeit beschlossen. Die von der Besatzungsmacht bei uns bestimmten Gremien werden wir soweit wiemöglich ignorieren, sie jedenfalls nicht zu unserem Fundament machen. Wirklich unabhängig können wir erst werden, wenn die wirtschaftlichen Grundlagen geschaffen sind.“

„Was geschieht jetzt weiter im Land?“

„Ein Großteil der Bürgerkomitees denkt, die Arbeit sei nun getan. Es entstehen vor allem neue Parteien, die Arbeiterpartei, die Sozialdemokratische Unabhängigkeitspartei, die Liberalen. Wir müssen Parteistrukturen für eine Eigenstaatlichkeit schaffen und stabilisieren.“

„Und die Gesellschaft für Denkmalpflege?“

„Sie war ja eine der ersten Organisationen, die schon 1987 gegründet wurde. Damals war sie vor allem dazu da, ich sage mal, um Optimisten zur Veränderung zu sammeln. Im Moment ist sie eine rein politische Organisation mit sehr breiter Massenwirkung. Aber das wird sie nicht mehr lange sein, dann wird sie sich den Denkmälern selbst zuwenden.“

„Im Fernsehen werden gerade Bilder litauischer Deserteure gezeigt. Habt ihr das Problem auch?“

„Wir haben eine Gruppe, die nennt sich 'Genf 49‘, das sind die Wehrdienstverweigerer. Sie argumentieren wie folgt: In Art. 51, der 4. Genfer Konvention (1949) heißt es, daß der Besatzungsmacht verboten sei, im besetzten Gebiet die Zivilbevölkerung zum Wehrdienst heranzuziehen. Und wir sind ja 1940 besetzt worden. Und im Mai, wenn die Einberufungen stattfinden, wird ein Boykott stattfinden.“

„Was sagst du zur sich anbahnenden deutschen Vereinigiung?“

„Wir wollen unsere Bestrebungen in den gesamten Prozeß der europäischen Veränderungen einbetten. Jetzt müssen endlich die Kriegsfolgen aufgearbeitet werden. Es klingt zwar paradox, daß unsere Absichten etwas gemeinsames haben, ihr wollt euch einigen, wir uns trennen. Aber ich denke, alle unsere gemeinamen Angelegenheiten werden Thema der überaus wichtigen KSZE-Konferenz sein.“

Das Interview führte Ruth Kibelka

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