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Die Fußnoten sind das Hauptwerk

Er ist mächtig. Er ist beredt. Er ist wurschtig. Er ist komisch. Und er kann's – heute genauso wie schon vor einem halben Jahrhundert: Dizzy Gillespie, der amtierende König der Jazz-Trompete, wird heute 75  ■ Von Jürg Laederach

Irgendeinem stand die rumstehende Trompete im Weg. Er stolperte darüber und schleifte sie mit. Da lag sie und war verbogen. Die Mündung ragte steil nach oben. Wer regiert, ist erigiert. So, vielleicht unter Auslassung des Letzten, erzählt Dizzy Gillespie, wenn gefragt, wie es dazu, nämlich zu ihm, kam und warum das Mikrophon, in das er bläst, so verdammt weit oben hängt. In anderen Kladden, Plattentexten, flüchtigen Dokumenten kann man ihn lesen, wie er erklärt, er habe von Charlie Parker gelernt, ihm aber, da er besser Klavier habe spielen können, in der Harmonielehre einiges beigebracht. Auf dem Olymp des Jazz, wo der begabte Massenverführer Miles Davis über seinen Tod hinaus jeden, der seine absolute Größe anzweifelt, via Jünger mit Verfolgung und Tod bedroht, ist Dizzy Gillespies Stellung statischer: Er ist der Größte, er ist der Flinkeste und Beste, und es ist ihm, scheint es, ziemlich egal. Wenn der Mann, sein Image, unter etwas litten, dann wohl unter manifestem, jahrzehntelangem Mangel an Anzweiflung. Wer hechelt einem ewigen König nach? Andererseits: Wie ist es möglich, daß ein verzückendes Realgenie erst zu seinem Fünfundsiebzigsten die rippelnde Gänsehaut wachruft, welche unsere Rückenhaut, bis zur Erschöpfung ihrer feinen Härchen, längst hätte anspringen müssen?

Der generöse König hat sein Werk genialisch verstreut, keine noch so intensive Suche wird eine umfassende Sammlung komplettieren. Er ist der Ärger eines jeden Collectionneurs, der zum Beispiel sein bestes Solo sucht; ein schlechtes, auch nur uninspiriertes, ist unauffindbar, Steigerungen jedoch liegen immerzu drin. Mit dem Alter sind seine Auftritte seltener geworden, er spielt nicht mehr auf jeder Nummer, zieht sich im Konzert auf den Conferencier-Status zurück. Wenn er dazwischenfährt, blähen sich die scharf umrandeten glattrasierten Backen unter seinen Wangenknochen wie Golfbälle nach außen. Er bläht, bläht sich, wird zerplatzen – da, im letzten Augenblick, das dünne Röhrchen, der steil nach oben ragende Königsbecher, sie fangen's auf.

Er ist mächtig. Er ist beredt. Er ist wurschtig. Er ist komisch. Und er kann's. Sein Ton ist nicht eigentlich voll, eher dünn und schneidend, seine Läufe unendlich beweglich. Ihn so schnell zu nennen wie ein Saxophon, ist irrig, denn er tut nur Dinge, die ein Saxophon nicht kann. Im Duett mit – immerhin – Stan Getz schlägt er den in den ersten Takten nach dem Motto „Mich hört man, von dir hört man, daß du auch da bist“. Dizzy Gillespie spielt pro Solo nur ein bis zweimal richtig, den Rest spielt er falsch. Er ist von fürchterlicher Hitze, einschüchternder Spontaneität und blitzschneller Kombinatorik, doch nur zum Schein direkt. Der leitende Verstand hält sich woanders auf; Dizzy ist der einzige ausgewachsene Meta-Trompeter des Geschäfts. Vor dem Solieren, während des Blasens, errechnet er unentwegt das „normal“ improvisierte Trompetensolo, das ein Top- Star wie Freddie Hubbard über dem harmonischen Gerüst spielen würde, und er fängt an, es zu kommentieren. Es handelt sich um eine Tonsprache des Einspruchs, Anfeuerns, Korrigierens. Er versieht einen nicht gespielten Text mit Fußnoten und veröffentlicht die Fußnoten als das Hauptwerk. Gillespie spielt die Erklärung, die er zu dem, was er selber jetzt spielen könnte, abzugeben hat. Von daher seine Soli, welche, wäre er nicht Gillespie und fünfundsiebzig, von jedermann als höchst eigentümlich angesehen würden: verzackt, alinear, immer unerratbar, anrennend gegen Hindernisse, die nur er sieht und die er mit unbeschreiblicher (und vitalisierend erheiternder) Virtuosität umhüpft. Die Emotion des desperaten Hörers ist entsprechend: als sähe er Grock, den Urvater aller Clowns, als Serienmörder. Soeben noch spielte er eine einfache Blues-Linie; kaum aber improvisiert er, scheint ein anderer, hieroglyphischer Text hervorgetreten zu sein, der hohe Quantitäten an Aggression und Gelächter erfordert. Gillespie spielt ganz extrovertiert in Rätseln. Man müßte schon staunen, wenn er, was er denkt, nur spräche. Auf der Trompete verarbeitet er einen im Frikassee-Tempo zum bedauernswerten „schlichten Zuhörer“. Man kann ihm nichts erwidern. Es bleibt nur Begeisterung. Es fällt ihm leicht, er will es so, spielt außer Konkurrenz, es ist ihm auch das egal.

Seine Bandbesetzungen, seine Stücke: insgesamt wesentlich konservativer als bei Miles Davis, es gibt fast nur klassischen Jazz, kaum elektrischen. Sein Tadel für einen schlechten Mitspieler: „He beeped when he should have bopped.“ Er hat einen Hang zum Kubanischen; auch die kubanischen Trommler haben ihm kaum etwas entgegenzusetzen – er verdizzt sie im Handumdrehen, wie er alles immer eingedizzt hat. Das Verbum „dizzen“ hat etwas mit „quecksilbern“ zu tun, könnte übersetzt werden mit „Fieberthermometer spielen“. Neulich im Plattengeschäft, aus vierzig Lautsprechern quellen sämtliche Musikarten, die zum Verkauf anstehen. Hinten, neben einer aus Pappe zusammengeklebten Kunst-Höhle mit Bar aus Hartpapier, dringt sein spitzer, tanzender Schrei, unverwechselbarer Dizzy-Ton, der sich wie ein Feinbohrer durchs Lokal in meine Ohren drillt. Er spielt immer „Con Alma“, eine Eigenkomposition, die er wohl vierzigmal aufnahm, „Night in Tunisia“ ist ebensowenig wegdenkbar. Ein altes Video zeigt ihn wie einen Sidestep tanzenden Salvador Dali vor einer Bigband, deren Musiker alle als Würfel oder als Vierecke verkleidet sind. Der Trompeter als Ausstecher: In „Jazz at Massey Hall“ schwang er sich über Charlie Parker hinaus. Hingegen, und das könnte seinen Ruhm gebremst haben, zeigt er seit längerem eine Neigung zu deutlich schwächeren Mitmusikern, welche zwar einwandfrei, aber doch Sockel-Zementierer für seine eigene bizarre blasbackige Majestät sind. Mit zwei fahlen Zementmischern, dem Pianisten Dwike Mitchell und dem Bassisten Willie Ruff, nahm er zwei glänzende, selbstverständlich im Verkauf kaum erhältliche Platten auf. Leichter erhältlich sind die früheren, starken Paarungen Gillespie/Sonny Stitt/Sonny Rollins (fabelhaft), Gillespie/Getz, vieles wird unter der Rubrik „Charlie Parker“ gefunden.

Jede Minute ist Gillespie-Zeit. Die Neueste, auf der er mit Wynton Marsalis, aber auch mit dem neunzigjährigen Doc Cheatham duettiert? Wer sammeln will, mache sich auf lange Recherchen gefaßt. Er beginne mit der Doppel-CD Dizzy Gillespie/Max Roach: kleine Besetzung, nur Trompete und Schlagzeug. Es ist egal, denn es dizzt nicht totzukriegen los. Gillespie ist selber nach oben verbogen.

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