: Die EG sucht Auswege aus der Krise
Der Krieg in Bosnien überdeckt alle anderen Themen auf dem EG-Gipfel in Kopenhagen ■ Aus Kopenhagen Dorothea Hahn
An die Arbeit, Männer! So lautete die Parole der Regierungschefs der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft seit dem 18.Mai. An dem Tag hatten die renitenten DänInnen beim zweiten Maastricht-Referendum dem Vertragswerk doch noch zugestimmt und ein Aufatmen der Erleichterung war durch die Chefetagen aller Gemeinschaftsregierungen gegangen. Die beinahe ein Jahr währende Unsicherheit über die Zukunft der Zwölferunion schien beendet und der Weg wieder frei für dringend notwendige, teils unpopuläre Arbeiten, die sich in der Zwischenzeit aufgestaut hatten.
Die nicht gerade kleinen Aufgaben lauteten: Die Rezession in allen Mitgliedsländern bekämpfen, Maßnahmen gegen den rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit ergreifen, ein wenig mehr Marktzugang für die assoziierten sechs Länder Mittelosteuropas schaffen, die lang geplante Erweiterung der Gemeinschaft um vier Efta-Länder (Schweden, Norwegen, Finnland und Österreich) in die Wege leiten und die Gemeinschaftsinstitutionen reformieren.
Der Einstieg in die neue Hemdsärmeligkeit sollte heute sein — wenn sich in Kopenhagen die zwölf Regierungschefs, ihre Außenminister und die beiden Spitzenvertreter der EG-Kommission — ausnahmslos männlichen Geschlechts — zum zweitägigen Gipfel treffen. Die dänische Regierung hatte als amtierende Ratspräsidentin eine Tagesordnung vorbereitet, die zwar nicht spektakulär war, aber immerhin zahlreiche anstehende Probleme aufgriff. „Vorrangig“, so der sozialdemokratische dänische Regierungschef Poul Nyrup Rasmussen in dem Einladungsschreiben an die übrigen Regierungsmänner, „müssen wir eine Antwort auf die die Bürger beunruhingenden Fragen finden, vor allem auf die Arbeitslosigkeit in der Gemeinschaft.“
Gleich am ersten Tag sollte sich der Gipfel mit den strukturellen Problemen der EG-Wirtschaft und ihrer Wettbewerbsfähigkeit befassen. Dabei müsse nicht nur über „grundlegende strukturelle Schwächen“ gesprochen werden, sondern auch versucht werden, kurzfristig die Wachstumsaussichten zu verbessern. Rasmussen, der sein Amt erst während der laufenden EG-Ratspräsidentschaft von seinem eilig zurückgetretenen konservativen Vorgänger Poul Schlüter übernahm, hofft auf „positive Signale“. Ähnliche Hoffnungen dürften auch die anderen Regierungschefs hegen, die daheim mit wachsender Skepsis gegenüber der Gemeinschaft zu kämpfen haben.
EG-Kommissionschef Jacques Delors will in Kopenhagen eine langerwartete Analyse mit wirtschaftspolitischen Strategien vorlegen. Allzu gute Neuigkeiten werden davon freilich nicht erwartet. Denn trotz der „Wachstumsinitiative“ des letzten Gipfels im Dezember im schottischen Edinburgh — die über Kreditbürgschaften Investitionen von bis zu 58 Milliarden DM angekurbelt soll — befindet sich die europäische Wirtschaft weiter auf der Talfahrt.
Die EG-Kommission schätzt das Wirtschaftswachstum in der Gemeinschaft im laufenden Jahr auf 0,5 Prozent — mindestens 3 Prozent wären aber nach der Brüsseler Logik nötig, um einen Rückgang der Arbeitslosigkeit zu bewirken. Gegenwärtig nimmt die Arbeitslosigkeit rasant zu — von 13 Millionen im Jahr 1991 ist sie nach EG-Schätzungen auf jetzt 17 Millionen gestiegen und wird — falls nichts dazwischenkommt — im nächsten Jahr bei 20 Millionen liegen.
Angesichts dieser Entwicklung erwarten die Regierungschefs, daß Delors in Kopenhagen ein Aktionsprogramm mit zahlreichen Einschnitten auch im Bereich der Sozialleistungen präsentiert. Ob sie vor diesem Hintergrund bei ihrem Versprechen bleiben, den sechs assoziierten Mittelosteuropäern (Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Tschechien und die Slowakei) den Zugang nach EG-Europa zu erleichtern, erscheint zumindest fraglich. Zumal vor allem Produkte betroffen wären, deren Branchen auch in der Gemeinschaft krisengeschüttelt sind: Textil, Stahl und Landwirtschaft.
Fraglich ist vor dem Hintergrund der EG-weiten Rezession auch, wie groß in Kopenhagen die Bereitschaft zur Einführung einer gemeinsamen Währung ist. Und offen ist auch, ob das angepeilte Beitrittsdatum für die vier Efta- Länder, das Jahr 1995 eingehalten wird. Bislang sind die Verhandlungen jedenfalls nicht über allgemeine Bekenntnisse hinaus gekommen.
Die neue Hemdsärmeligkeit kann nicht überdecken, daß Bosnien gerade der Schauplatz der „tragischsten Ereignisse seit dem Zweiten Weltkrieg“ ist, wie Nyrup Rasmussen es nennt. Das Scheitern des Vance-Owen-Plans hat auch deutlich gemacht, daß die Gemeinschaft mit ihrer Jugoslawien- Politik am Ende ist.
Eine Antwort auf dieses außen- und sicherheitspolitische Versagen hat auch in Kopenhagen niemand parat. Der einzig konkrete Vorschlag wurde im letzten Moment von der französischen Regierung als Diskussionsthema für den Gipfel eingereicht. Edouard Balladur, unterstützt von Staatspräsident François Mitterrand schlägt eine neue Sicherheitsstruktur in Europa vor, um eine Tragödie wie in Ex-Jugoslawien in Zukunft zu vermeiden. Ob als Konkurrenz, Ersatz oder Erweiterung der zahlreichen bisherigen Institutionen ist unklar. Nur Länder aus dem geographischen Europa und da auch nur solche, die bereit sind, zu unterschreiben, daß die Grenzen unverletzlich sind und sie ihre Minderheiten schützen, sollen diesem neuen Pakt beitreten dürfen.
Der Krieg in Europa und die Rezession in der Gemeinschaft stellen den Gipfel in Kopenhagen damit vor Aufgaben, die viel schwieriger sind, als das noch Mitte Mai scheinen mochte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen