Für die alleinstehende berufstätige Frau

Die soziale Architektur der Margarete Schütte-Lihotzky: Eine Ausstellung im Wiener MAK  ■ Von Stella Rollig

Sie ist, seit sie ihr Studium 1919 abgeschlossen hat, die erste Architektin Österreichs. Bis heute wird sie von der Überzeugung geleitet, daß der Entwicklungsstand der sozialen Verantwortung einer Gesellschaft am zuverlässigsten an ihrer sozialen Architektur abzulesen ist. Und natürlich ist sie heute mit 96 Jahren auch ein Stück lebende Zeitgeschichte: Wir lernen an ihrer Biographie, wie das Bekenntnis zum Kommunismus im Nachkriegsösterreich weit karrierehinderlicher war als eine braune Vergangenheit, ja, wie schwer Anerkennung mit unspektakulärer Vernunftleistung zu erringen ist, mag sie richtig und richtungweisend sein, wie sie will. Margarete Schütte-Lihotzky und ihrem Werk widerfuhr genau das Nicht-einmal- ignoriert-werden, das der rot- weiß-roten Avantgarde so vertraut ist. In den viereinhalb Jahrzehnten, nachdem sie aus der Nazihaft nach Wien zurückgekehrt war, beauftragte die Gemeinde die ehemalige Widerstandskämpferin mit mageren zwei Wohnbauten und zwei Kindergärten. Im heurigen Jahr nun wurde ihr das Ehrenzeichen der Republik Österreich für Wissenschaft und Kunst verliehen (das sie 1988 abgelehnt hatte, um es nicht vom damaligen Bundespräsidenten Waldheim entgegennehmen zu müssen), und endlich gibt es auch die große Lebensausstellung im kürzlich glanzvoll wiedereröffneten Museum für Angewandte Kunst (MAK).

Die Ausstellung trägt den Untertitel „Soziale Architektur – Zeitzeugin eines Jahrhunderts“. Sie ist umfangreich, ansprechend designed, didaktisch – und etwas papieren. Und das, obwohl drei Arbeiten in Originalgröße reproduziert sind: das „Wohn- und Schlafzimmer der Frau Neubacher“ von 1925, die „Musterwohnung für die alleinstehende berufstätige Frau“ von 1928 und die berühmte „Frankfurter Küche“ (1927), die das MAK schon vor einigen Jahren rekonstruieren ließ. Der ausgezeichnete Werkkatalog ist das Produkt einer Forschungsgruppe von vier jungen Architektinnen (Renate Allmayer-Beck, Susanne Baumgartner-Haindl, Marion Lindner und Christine Zwingl), die seit einigen Jahren Schütte-Lihotzkys Werk wissenschaftlich aufarbeiten.

Drei Gründe, sagt Margarete Schütte-Lihotzky, hätten sie für die Architektur gewonnen: „Erstens die soziale Aufgabe. Die Architektur kann nie Selbstzweck sein, sie ist immer eine direkte Dienstleistung am Menschen. Ich wollte nie im Wolkenkuckucksheim arbeiten. Der zweite Aspekt, der mich fasziniert hat, ist der mathematisch-präzise. Und drittens gefällt mir der künstlerische Anteil, denn die Funktion ist niemals alles. Mit der künstlerischen Gestaltung beeinflußt der Architekt ganz direkt das Wohlbefinden der Menschen.“ Oskar Strnad, ihr Lehrer an der Wiener Kunstgewerbeschule, hatte sie in die Vorstadt geschickt, um sich anzuschauen, wie die Arbeiter wirklich wohnen. In den zwanziger Jahren engagiert sie sich – gemeinsam mit Adolf Loos – in der Wiener Siedlerbewegung. 1926 holt Ernst May sie ans Hochbauamt nach Frankfurt, wo sie bis 1930 in der Typisierungsabteilung für die Entwicklung neuer Modelle kommunaler Wohnbauten zuständig ist. Sie bringt ihre Erfahrungen aus dem „Roten Wien“ mit, wo in den Zwanzigern Meilensteine des sozialen Wohnbaus entstanden. Und sie modifiziert diese Modelle nach ihrem besseren Wissen: Gemeinschaftseinrichtungen wie Zentralküchen hält sie in einer ökonomisch instabilen Zeit für zu riskant; wenn Familien jederzeit ihr Einkommen einbüßen können, sollten sie besser autonom wirtschaften.

Neben dem Wohnbau für Einkommensschwache wird Bauen für Frauen und Kinder zu ihrem Lebensthema. Sie ist davon überzeugt, daß Entlastung der Frauen einerseits Versorgungseinrichtungen für die Kinder und andererseits Rationalisierung der Hausarbeit voraussetzt. So ist die „Frankfurter Küche“ Ergebnis einer gründlichen Untersuchung der Arbeitsabläufe („Anwendung des Taylorismus auf den Haushalt“). Die Sowjetregierung holt sie 1930 mit der „Brigade May“ nach Moskau, wo sie zwischen 1930 und 1937 als Spezialistin für Kinderanstalten im Einsatz ist. Für das chinesische Unterrichtsministerium entwickelt sie Richtlinien für den Bau von Kindergärten, zwischen 1938 und 1940 entwirft sie Erziehungsbauten im Auftrag der Regierung in Istanbul. Sie geht nach Wien um den Kontakt des österreichischen Widerstands mit dem Ausland zu organisieren, wird verhaftet und erst bei Kriegsende von den Amerikaner aus dem Zuchthaus Aichach (Bayern) befreit.Nach dem Krieg wieder in Wien ansässig, behält sie ihren polyglotten Lebensstil bei, reist, schreibt, hält Vorträge, baut. Die Hoffnung, ihre internationale Erfahrung als Expertin für Kindereinrichtungen im Wiederaufbauprogramm ihrer Heimatstadt einbringen zu können, erfüllt sich indes nicht. Beruflich organisiert sie sich mit CIAM („Congrès Internationaux d'Architecture Moderne“), der zwischen 1947 und 1956 die Architekten der Moderne wieder zusammenbringt, politisch vor allem im Vorstand des KZ-Verbandes und bei verschiedenen Frauenverbänden.

„Ethischer Realismus“ hat Friedrich Achleitner Schütte-Lihotzkys Arbeitshaltung genannt. Im Zuge einer Neubewertung (oder dringlicher noch: Neu- Aneignung) der Moderne kommt sie als Diskussionsbeitrag gerade recht.

Paradox jedoch, daß der Rundgang durch die Ausstellung beinahe mehr Frust hinterläßt als Lust. Denn es ist doch unbegründete Zuversicht, die uns glauben läßt, Gutes könne, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr aus ihr hinausgedrängt werden. Hier sind die Gegenbeispiele. Flexible Wohneinheiten, die sich veränderten Familienstrukturen anpassen, sparsame Lösungen, die die laufenden Wohnkosten gering halten, Architektur im Sinne der Verantwortung für eine bessere Zukunft – all das vermissen wir gerade jetzt in Wien sehr deutlich, wo der kommunale Wohnbau gefordert ist wie seit Jahrzehnten nicht.

Margarete Schütte-Lihotzky: „Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts“. MAK – Österreichisches Museum für Angewandte Kunst. A – 1010 Wien, Stubenring 5. Ausstellungsdauer bis 29. August 1993