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„Nieder mit der Scharia“

Hunderttausende demonstrierten in Istanbul gegen den Fundamentalismus in der Türkei / Trauerzug für die Attentatsopfer von Sivas wurde zur weltlichen Demonstrantion  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Das Transparent zeigt eine Vampirfratze, die nach Blut dürstet. Unter der Fratze prangt zur Rechten ein Hakenkreuz, zur Linken eine grüne Flagge – die „Dschihad-Fahne“ der islamischen Fundamentalisten: „In Sivas die islamischen Reaktionäre, in Deutschland die Skinheads“ haben die Demonstranten unten auf ihr Transparent geschrieben. Der Vergleich der islamisch-fundamentalistischen Brandstifter, die in Sivas vor einer Woche 36 Menschen ermordeten, mit den deutschen Skinheads ist eines der Mottos, unter denen Hunderttausende gestern zwei prominente Opfer des Anschlags, den türkischen Literaten Asim Bezirci und den populären Sänger Nesimi Cimen, in Istanbul zu Grabe trugen.

„Die Türkei soll kein Iran werden“, „Nieder mit der Scharia“, „Mullahs ab in den Iran“ skandiert die Menge, und immer wieder: „Skinheads in Deutschland, islamische Reaktionäre in Sivas“. Zur Beerdigung der beiden Attentatsopfer hatten sich gestern Tausende von Menschen am Bosporus eingefunden, bevor der Trauerzug vor dem Sitz des türkischen Schriftstellerverbandes an einer Hauptverkehrsstraße halt machte.

Seit dem Militärputsch 1980 hat Istanbul keine Demonstration erlebt, bei der die Polizei so viel Zurückhaltung übte. Keine Barrikaden und keine öffentliche Zurschaustellung uniformierter Einsatztruppen, obwohl die kilometerlange Demonstrationsroute nicht genehmigt war. Illegale Demonstrationen – zumal solche, auf denen der Staat des Mordes bezichtigt wird – pflegen die Staatsschützer mit Knüppeln auseinanderzutreiben. Doch diesmal ist es etwas anderes. Mit so starkem Protest hatte niemand gerechnet.

Ein Lautsprecherbus und die beiden Leichenwagen setzten sich an die Spitze des Zuges. Schüler mit Jeans und T-Shirts, Frauen und Männer aus den Istanbuler Slums sind ebenso dabei wie gutgekleidete Mittelstandsfrauen und Männer. Doch das Establishment der politischen Parteien glänzt durch Abwesenheit. Die bürgerlichen Parteien, inklusive der Sozialdemokraten haben nicht mobilisiert. Überhaupt fehlt es an organisierten Blöcken.

Auch die Gruppe der PKK- Sympatisanten ist nur mit einem kleinen Häufchen und einer völlig unverständlichen Parole vertreten. „Guerilla nach Sivas“ skandieren sie. Gruppen, die sich spontan zusammengefunden haben, bestimmen den Massenprotest gegen die Morde der Fundamentalisten in Sivas: Hier ein Grüppchen Ärzte mit weißen Kitteln, dort eine Gruppe von Migranten aus Sivas, die seit Jahrzehnten in Istanbul leben. Auch die Vielfalt der selbstgemachten Transparente spricht für sich. Selbst Arbeiter aus winzigen Betrieben haben ihre eigenen Transparente gemalt.

Saudis und Iran stützen Fundamentalisten

Nur einmal fliegen Steine, als der Beerdigungszug an dem Bürohochhaus der saudischen „Faisal- Finanz“ passiert. Dort sitzen die Mörder rufen die Demonstranten. Daß Fundamentalistengruppen in der Türkei ideologisch und finaziell von Saudi-Arabien und dem Iran unterstützt werden, ist seit langem kein Geheimnis mehr. Auffallend ist die starke Teilnahme alewitischer Moslems an der Demonstration. Die Alewiten, türkische Schiiten, die unter der osmanischen Herrschaft lange unter Verfolgung zu leiden hatten, gelten als Anhänger einer säkularen, liberalen Politik. Aus dem Lautsprecher ertönt der Bassbariton des Sängers Ruhi Su, der nach dem Militärputsch 1980 in den Untergrund gehen mußte und 1985 starb: „Jeder hat sein eigenes Mekka, mein Mekka ist die Menschlichkeit und die Liebe.“

Vor der Demonstration in Istanbul kam es bereits in anderen Städten zu Massenprotesten gegen die militanten Ausschreitungen der islamischen Fundamentalisten. Noch am Wochenende nach der Brandstiftung protestierten Tausende in Sivas, obwohl die Armee aufmarschiert war und in der Stadt eine Ausgangssperre verhängt wurde. Nach Angaben des Polizeifunks kamen in der türkischen Hauptstadt Ankara am Dienstag 400.000 Menschen zur Beerdigung von 24 Opfern des Massakers in Sivas. Der stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Volkspartei, Inönü, der sich mit Kollegen in den Trauerzug einreihte, wurde ausgepfiffen und angerempelt: „Die Mullahs schlagen, Inönü schläft“.

Die neue, türkische Regierung unter Ministerpräsidentin Tansu Ciller, der erst am Wochenende vom türkischen Parlament das Vertrauen ausgesprochen wurde, steht im Kreuzfeuer der Kritik. In der Fraktionssitzung der „Sozialdemokratischen Volkspartei“, die Koalitionspartner ist, forderten eine Reihe von Abgeordneten den Rücktritt von Innenminister Mehmet Gazioglu.

Der Gouverneur von Sivas und der Polizeipräsident sind gestern ihrer Ämter enthoben worden. Der Polizeipräsident hatte zuvor mitgeteilt, daß unter den 140 Festgenommenen in Sivas mehrere Personen als „Mitglieder einer illegalen, fundamentalistischen Organisation“ identifiziert wurden. Der Gouverneur hatte Regierung und Militär indirekt beschuldigt, nicht rechtzeitig Hilfe gegen den fundamentalistischen Terror bereitgestellt zu haben.

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