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■ Press-SchlagStrip in Spikes

Bis Sandra Farmer-Patrick über die 400-Meter-Hürden lief, galt die Stadionrunde mit Hindernissen als eine der härtesten Disziplinen der Leichtathletik. Männlich hart, nichts für Zartbesaitete. Und was machte das Glamourgirl aus Los Angeles? Tat gerade so, als sei die Arena der Sunset Strip, tänzelte im Mini-Fransen-Röckchen zum Startblock. Etwas irritierend für frohlockende Männeraugen war nur, daß die in Jamaika geborene Schönheit in Spikes und nicht in Stöckelschuhen zur Aufführung schritt. In Stuttgart mußte sie aufs Röckchen verzichten, weil die IAAF Höschen lieber sieht. Doch seit ihrer Niederlage vergangenes Jahr in Barcelona gegen Sally Gunnel aus Großbritannien, die so aussieht, wie Britinnen eben aussehen, und sich auch so gibt, war klar, daß im Ziel nicht die B-Note für den künstlerischen Ausdruck entscheidet.

Auch in Stuttgart tänzelte die Amerikanerin bis zur Zielgeraden über neun Hürden, als sei ein WM-Endlauf eine Can-Can-Darbietung. Der Vorsprung betrug fünf Meter, der Sieg schien nahe. Doch sind zehn Hürden vorgesehen in dieser Disziplin, und auch im Daimler-Stadion war das letzte Hindernis nicht vergessen worden.

Doch dann übersäuerte die Muskulatur von Farmer- Patrick, kein Adenosintriphosphat mehr im Energiespeicher. Der Geist willig, das Fleisch schwach. Die Schritte wurden immer kürzer. Und wieder war die Britin als erste im Ziel. In neuer Weltrekordzeit: 52,74 Sekunden. Der erste Weltrekord in der Frauenleichtathletik seit Seoul 1988. Die Amerikanerin unterbot als Zweite in 52,79 ebenfalls die alte Bestmarke von Marina Stepanova aus dem Jahr 1986 (52,94). Nach dem Rennen brach Sandra Farmer-Patrick zusammen und mußte in den Katakomben des Stadions behandelt werden. Und erlangte erst wieder das Bewußtsein zurück, als sie Trainer Bob Kersee zur Besinnung rief: „Steh auf. Du bist ein prima Rennen gelaufen. Mitleid gibt es nicht!“ Erst da begriff die 30jährige, daß sie eine Fabelzeit gelaufen war.

Die 27jährige Britin drehte längst ihre Ehrenrunde. Der Tanz auf dem sportlichen Jahrmarkt der Eitelkeiten begann für sie mit Eierlaufen beim Schulsportfest. Die perfekte Hürdentechnik hat sich die Farmerstochter beim Springen über Papas Strohballen in der Gegend von Essex angeeignet. Vom Weitsprung über den Siebenkampf und die 110-m- Hürden kam sie auf die Hindernisstrecke. In Tokio gelang ihr mit der Silbermedaille der internationale Durchbruch. In Barcelona holte sie Gold. In Stuttgart den Weltrekord. „Ich hätte nicht gedacht, daß ich dafür schon reif bin“, schnaufte sie ins Mikrofon, während auch Sandra Farmer-Patrick den Weg aus dem Arztraum zurück zum Publikum fand: „Ich bin hinausgelaufen, als wäre ich selbst Weltmeisterin geworden.“ Jörg Hamann

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