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„... das dem Manne Urfremde“

Die Hiobsbotschaft des Carl Gustav Jung und die Folgen sexueller Gewalt  ■ Von Andrea Schweers

Im Alter von 32 Jahren berichtete Carl Gustav Jung 1906 in einem Brief an Sigmund Freud, der damals für ihn wissenschaftliches Vorbild und väterlicher Freund war, daß er als Kind Opfer eines „homosexuellen Attentats“ durch einen von ihm „früher verehrten Menschen“ geworden sei. Die Erinnerung daran bedrängte Jung in verschiedenen Lebensphasen immer wieder, suchte ihn als „böser Geist“ heim, behinderte sein Schreiben.

Für Freud kam die „Beichte“ denkbar ungelegen, hatte er doch wenige Jahre zuvor seine aus eigener therapeutischer Praxis gewonnenen Erkenntnisse über das ungeheuerliche Ausmaß männlicher sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche widerrufen. So empfahl er dem Kollegen, den „mißlichen“ Erlebnissen mit „Humor“ zu begegnen. Jung „sprach“ nie wieder.

Soweit die bekannten Tatsachen. Trotz umfangreicher biographischer Jugendforschung und einer ganzen Schule von TherapeutInnen, die nach der von Jung begründeten analytischen Psychologie arbeiten, hat jetzt die feministische Psychotherapeutin und Hochschuldozentin Renate Höfer zum ersten Mal die Frage gestellt, welche Auswirkungen auf das Leben und Werk C.G. Jungs die sexuelle Gewalttat hatte und was vor allem aus dem lebenslangen Ver-Schweigen resultiert.

Grundlage ihrer Untersuchung sind die aktuellen Veröffentlichungen der letzten Jahre zum Thema sexueller Mißbrauch und die Erfahrungen aus der eigenen beruflichen Praxis. Vor diesem Hintergrund gelingt es ihr, Jung zum „Sprechen“ zu bringen, das heißt, sie liest zwischen den Zeilen seiner Lebenserinnerungen, Traumdeutungen, Briefe und theoretischen Schriften jene Tatsachen heraus, die ihn sein Leben lang quälten. Mit derselben intensiven Aufmerksamkeit hört sie auch den Menschen aus der Umgebung Jungs zu, insbesondere den Frauen, die wichtige Abschnitte seines Lebens teilten. Und sie beobachtet die Reaktionen von AnhängerInnen und KritikerInnen, die in aufschlußreicher Weise die erlebte sexuelle Gewalt ignorieren, obwohl das Material stets zur Verfügung stand.

Renate Höfers Analyseergebnis: Die „Geheimhaltung der Geheimnisse“, das Verwischen beziehungsweise gänzliche Ausblenden von Wirklichkeit, mit dessen Hilfe Jung versuchte, die zerstörerische Erfahrung des sexuellen Übergriffs zu verdrängen, wird zum alles bestimmenden Thema seiner Lebensgeschichte wie auch seiner therapeutischen und wissenschaftlich-theoretischen Positionen. Die Autorin zeigt eindringlich auf, wie Jung noch als alter Mann in seiner Spätschrift „Antwort auf Hiob“ mit der Schuld des Vaters, der Schuld des Sohnes ringt, ohne zu benennen, worum es ihm wirklich geht, ohne den Täter anzuklagen. Jung entschied, daß „Erinnerungsarbeit“ in der Therapie, also die Auseinandersetzung mit Kindheitserfahrungen und -beziehungen, Zeitverschwendung sei, und fand sein Leben lang keine Sprache für die Beschreibung kindlicher Sexualität.

Das Trauma des sexuellen Mißbrauchs versuchte er durch Mythologisierung zu bewältigen, durch Übertragung auf eine höhere, unpersönliche Ebene. Inzest wird so nur noch „symbolisch“ gesehen – als wichtiges Element des von Jung entwickelten „kollektiven Unbewußten“, das aus archaischen, überindividuellen Quellen, aus Symbolen, Mythen oder Märchen gespeist wird. Eine Form der Verdrängung, die in der therapeutischen Praxis für betroffene PatientInnen bis heute fatale Folgen hat.

In seinen Frauenbeziehungen verhielt Jung sich nicht „nur“ im traditionellen Sinne ausbeuterisch – „der Mann ist polygam veranlagt“ war seine Überzeugung, nach der er auch lebte. Mit Hilfe der vier wichtigsten Frauen in Jungs Leben – seiner Cousine und Jugendliebe Helly Preiswerk, seiner Ehefrau Emma Rauschenbach, seinen Geliebten Sabina Spielrein und Toni Wolff, beide zunächst Jungs Patientinnen und später selbst Analytikerinnen – macht Höfer deutlich, wie Jung es verstand, jede für seine Arbeit nutzbar zu machen. Gleichzeitig wirkte auch hier das Prinzip der Realitätsflucht – so verwandelte Jung beispielsweise die Anregungen von Sabina Spielrein in seine eigene innere „weibliche Stimme“, die ihm geholfen habe, seinen berühmten Anima-Archetypus zu entwickeln.

Renate Höfer kommt zu dem Schluß, daß nicht nur Jungs Position zur Inzest-Thematik, sondern die gesamten „Feststellungen, Deutungen, Typisierungen und Wertungen zu Sexualität und Geschlechtlichkeit“ letztendlich auf verdeckter und auch offener Frauendiskriminierung basieren.

Jung münzte – und das ist typisch für männliche Betroffene – die eigene Gewalterfahrung und seine Verletzung in sadistische Wünsche gegen Frauen um: „... die Leere ist ein großes weibliches Geheimnis. Sie ist das dem Manne Urfremde, das Hohle, das abgrundtief andere, das Yin. Die mitleiderregende Erbärmlichkeit dieser Nullität (ich rede hier als Mann) ist leider – möchte ich fast sagen – das machtvolle Mysterium der Unfaßbarkeit des Weiblichen“ (Jung, 1935). Die Jungsche Position zum Nationalsozialismus war, wie Renate Höfer in einem weiteren Abschnitt ihrer Analyse überzeugend herausarbeitet, kein „Ausrutscher“, wie er selbst im nachhinein entschuldigend formulierte, sondern eine bewußte Entscheidung für das „Führerprinzip“ und eine Abgrenzung gegenüber der „jüdischen Psychologie“ Freuds und Adlers. Mit dieser Haltung beförderte Jung von der neutralen Schweiz aus ganz erheblich seine eigene Karriere im nationalsozialistischen Deutschland.

Renate Höfers Buch ist trotz der gewiß nicht leichten Materie und dem umfangreichen von ihr bearbeiteten Material spannend und aufwühlend zu lesen. Geradezu atemberaubend intensiv wird es immer dann, wenn sie ins „direkte Gespräch“ eintritt, wenn sie zwischen den Zeilen liest, Untertöne aus Briefen Jungs heraushört, wie sie es aus ihrer therapeutischen Praxis gewohnt ist. An einem Punkt hätte ich gern noch mehr gewußt, aber das wäre dann ein zweites Buch: Jungs Einstellung zur Homosexualität. Mehrfach in der Auseinandersetzung mit Freud tauchen ambivalente Stellungnahmen zur Homosexualität auf – Jung empfiehlt sie als antikonzeptionelles Mittel und als „vorzüglich geeignet für die großen Männerbetriebe“. Die eigene erotische Anziehung zu Freud leugnet er nicht, begegnet ihr aber mit „Abscheu“ und „Ekel“, was er wiederum mit der erlittenen Vergewaltigung erklärt. So als hätte Freud von ihm eigentlich eine positive Haltung erwartet.

Renate Höfer ist mit ihrem Buch mehr gelungen als eine Abrechnung mit einem der beiden großen „Meister“ der Tiefenpsychologie. Durch ihre Analyse wird dem gesamten Werk C.G. Jungs der Anspruch auf Gültigkeit entzogen, ein für die Jungianer-Gemeinde sicher schwer verdauliches Ergebnis. Vor allem aber ist ihr Buch ein bewegendes Plädoyer dafür, die von sexueller Gewalt betroffenen Mädchen (und Jungen) in ihrer traumatisierenden Erfahrung ernst zu nehmen.

Renate Höfer: Die Hiobsbotschaft C.G. Jungs – Folgen sexuellen Mißbrauchs, zu Klampen Verlag, Lüneburg, 1993, 423 Seiten, 38 Mark.

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