: Moderne Massaker
■ Yves Ternon über Zivilisation und Mordlust in „Der verbrecherische Staat“
„Die am höchsten entwickelten Völker sind der Barbarei so nahe wie das blankste Eisen dem Rost.“ Dieser Vergleich findet sich in Yves Ternons Buch Der verbrecherische Staat. In ihm examiniert der in Paris lebende Chirurg und Genozidforscher die Völkermorde des 20. Jahrhunderts mit interdisziplinärer Lupe.
Yves Ternon verbindet Erkenntnisse amerikanischer Wissenschaftler mit denen europäischer Philosophen und Soziologen, um so die vermeintliche Paradoxie zu erklären, wie das zuendegehende Jahrhundert das zugleich „zivilisierteste“ und für enthemmten Massenmord das prädestinierteste sein konnte.
Der detaillierten und ausführlichen Untersuchung der „zeitgenössischen Genozide“ (sic!) ist eine aufschlußreiche Einleitung vorangestellt,in der Ternon den Völkermordbegriff analysiert. Dieser Teil ist vor allem deswegen besonders interessant, weil hier erörtert wird, welche Bedeutung massenpsychologische und kulturelle Faktoren und moderne Staatsformen für dergestaltige Phänomene haben.
Warum ist das 20. Jahrhundert „grausamer als seine Vorgänger“ (Solschenizyn)? Ternon betrachtet die institutionalisierte Totalität moderner Gesellschaften als begünstigenden Faktor für enthemmte Völkermorde, da hier das Gewissen der Ausführenden unberührt bleibe: Die Anonymität bürokratischer Apparate verleihe den Mördern einen „moralischen Kokon“, technologische Fortschritte bewirkten mit einer Routinisierung des Tötens eine zusätzliche Realitätsverharmlosung. Innerhalb solcher Staatsformen stehe die „Modernität des Völkermords“ in engem Zusammenhang mit der Popularität totalisierender Ideologien. In der Ideologie feiere das Irrationale seine Wiederkehr in die vernunftzivilisierte Moderne: Als Quasi-Mythos nimmt sie „das Imaginäre, das der Mythos interpretiert, furchtbar ernst, und in dieser Unfähigkeit zum Humor erweist sich der Todeskeim der Ideologie“.
Die Frage nach den psychosozialen Ursachen genozidären Verhaltens läßt Ternon durch eine pluralistische Darlegung verschiedener Ansätze offen. Erwähnung finden Konrad Lorenz' biologischer Determinismus, René Girards Sündenbocktheorie, massenpsychologische Erklärungen für masochistisch-ritualistische Unterwerfungsmechanismen und last not least der gute, alte, böse, ewig junge Freudsche Todestrieb. Keines dieser Deutungsmodelle könne jedoch leugnen, daß jeder Mittäter und -wisser letztlich ein zum Funktionieren beitragendes Rad im Getriebe sei – und somit auch ein williger Vollstrecker.
Abschließend fragt Ternon nach der Möglichkeit, völkermordenden Staaten Einhalt zu gebieten. Er plädiert für die Errichtung eines „Frühwarnsystems“ für Genozide auf der Basis einer Datenbank über Völkermordsverbrechen. Ob solche Bestrebungen tatsächlich realisierbar sind, mag ebenso fraglich wie wünschenswert erscheinen. Yves Ternons informatives und vielschichtiges Buch aber bedeutet in seiner Analyse des Völkermord-Begriffs immerhin einen Schritt in diese Richtung. Denn bevor gegen einen „verbrecherischen Staat“ interveniert werden kann, muß dieser zunächst einmal als solcher verantwortlich gemacht werden können.
Christian Schuldt
Yves Ternon: „Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert“, Hamburger Edition/Institut für Sozialforschung, 344 Seiten.
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