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Kulturrevolution des Geldes

Auch die chinesische Literatur folgt inzwischen den Gesetzen des Marktes. Lyriker produzieren politisch akzeptable Nostalgie für den Massengeschmack – und Restaurants heißen neuerdings auch schon mal „Landverschickte Jugend“  ■ Von Yang Lian

In China können wir schreiben, was wir wollen.“ Sagt jedenfalls Yu Hua. Dabei ist er durchaus kein Funktionär der Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei, sondern Schriftsteller. Er ist Autor eines populären Buches, das Zhang Yimou kürzlich unter dem Titel „To Live“ verfilmte. Yu Hua hat soeben vier Bände seiner gesammelten Werke veröffentlicht und gehört zu denen, die in China unter dem Sammelbegriff Avantgardeschriftsteller firmieren. Seine Bemerkung bezieht sich vor allem auf die Auflagenhöhe seiner mehrfach aufgelegten Bücher, die jeweils in die Hunderttausende geht, sowie auf die Verleger und Buchhändler, die nach seinem neuesten Werk Schlange stehen. „Die Behörden“, so Yu Hua, „können den Markt nicht kontrollieren“.

Was „richtig“ ist, hängt für Schriftsteller und Künstler in China heute davon ab, ob es sich lohnt. Hohe Verkaufszahlen bedeuten Freiheit. Der Markt, oder einfacher gesagt: Geld, definiert den „Zeitgeist“ im China der neunziger Jahre. Die Ziele echter Dissidenz und die Erforschung neuer Wege des Denkens in den achtziger Jahren sind heute zu gewinnträchtigen Strategien verkommen. Um ihre Kunden – westliche wie östliche – anzulocken und zu befriedigen, sind Künstler aus ihrer einstmals einsamen, manchmal gefährlichen Beschäftigung, künstlerische Ausdrucksformen zu finden, aufgetaucht und zu gewöhnlichen, lärmenden Marktschreiern geworden. Ganz gleich, ob es um die Markenzeichen „chinesischer Kunst“ geht – die Maobilder, Schöpfungen aus der Kulturrevolution, neueste Perversionen chinesischer Sexualität, uralte Pseudoerotika etc. – oder um Literatur: Im Prinzip läuft immer alles nach dem gleichen Muster ab. Alles wird mit einem zusammengestoppelten, kritisch-schicken Jargon aufgepeppt und präsentiert, als handele es sich dabei um eine „einzigartige, ursprüngliche“ künstlerische Sprache.

In Wang Shuos sehr populären und klug geschriebenen literarischen Erinnerungen wird die Kulturrevolution zu einem Gegenstand nostalgischer Kennerschaft. Die Darstellung der traditionellen chinesischen Familie in Su Tongs „Ehefrauen und Konkubinen“ (von Zhang Yimou als „Rote Laterne“ verfilmt) gestattet der Leserschaft ähnliche voyeuristische Genüsse. Schriftstellerinnen schreiben immer und immer wieder frauenfeindliche Bücher, und ihre männlichen Pendants wie beispielsweise Jia Ping'ao plaudern derweil aus dem Nähkästchen urbaner Dekadenz, wo Essen und Sex das einzige sind, was zählt; seine große Beliebtheit verdankt sich seinem geschickten Spiel mit dem Hunger, dem Durst und den Sehnsüchten von einer Milliarde Menschen.

Daneben gibt es das Geschrei der Avantgarde, die sich mit ihrem eigenen Avantgardetheoretiker Chen Xiaoming über sich selbst lustig macht, der sagte: „Chinesische Kritiker diskutieren über chinesische Schriftsteller, während chinesische Schriftsteller über ausländische Schriftsteller diskutieren.“ Heutzutage reichen ein paar tausend Mark Vorschuß, um einen guten jungen Lyriker, der Liebesgedichte macht, zu überreden, einen erotischen Roman zu schreiben oder eine kommentierte Ausgabe von Maos Gedichten herauszugeben.

Der gewaltige Unterschied zwischen dem heutigen Zeitgeist und dem des „Erwachens“ und „Überdenkens“ in den achtziger Jahren ist erstaunlich. Als einer, der damals dabei war, stelle ich auch eine geradezu komische Beziehung zwischen diesen beiden Phasen fest. Denn das „Überdenken“ der achtziger Jahren war kein Selbstverwirklichungsversuch. Vielmehr war es eine unter enormem Druck erzeugte Reaktion auf die schmerzhaften Reizungen durch die Kulturrevolution.

Die Schüsse vom Tiananmen- Platz im Juni 1989 haben im Kopf der chinesischen Intellektuellen einen blinden Fleck erzeugt. Lange hatten sie gehofft, durch Wissen Macht zu erlangen – doch der jahrhundertealte Traum von der „Rettung des Volkes durch Bildung“ hatte sich am Ende als der Macht der Gewehre unterlegen erwiesen.

Nackte, maßlose Gewalt braucht kein intellektuelles Wissen und schert sich nicht um „Denken“. Unterhalb des importierten Vokabulars von „Sozialismus“ und „Kapitalismus“ ist die pragmatische Ausübung von Macht ihre einzige Wahrheit. Pragmatismus – wir können es auch pures, unbegrenztes Begehren nennen – gestattet es prinzipienloser Macht und rücksichtslosem Geld, zu unserem kleinsten gemeinsamen Nenner zu werden.

Die „Kulturrevolution des Geldes“, während der sich seit 1992 jeder „ins Profitmachen stürzte“, bezog ihre Slogans aus Wang Shuos schlauen Romanen: „Es gibt keine Regeln. Absolut keine.“ Oder: „Erst die Sucht, dann der Tod.“ [Die populären Ausdrücke „Jinqian wenhua geming“ und „quanmim xiahai“ heißen wörtlich „Geldkulturrevolution“ und „das ganze Volk stürzt sich ins Meer“; sie bedeuten, man solle die notwendigen Risiken auf sich nehmen und sich ins Geschäft stürzen; Anm. d.Ü.] Wie in einem Spiegel verdoppeln und verstärken solche Phrasen das Denken, das von der Macht in China propagiert wird. Das „Überdenken“, das Muß der achtziger Jahre, ist schnell als überflüssiger Ballast abgeworfen worden. Man ist von einem vorgeschriebenen Denken zu einem aktiven Nichtdenken übergegangen bis schließlich der Geldwert jeden geistigen Wert ersetzt hat.

Die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft – individuelle Selbstbestimmung und Selbstbewußtsein – werden durch die Überschwemmungen des Marktes keineswegs gestärkt, sondern vielmehr abgeschafft. Der Markt erzeugt und kultiviert einen Kader risikofreudiger Unternehmer, die für Wohlstand zu allem bereit sind. Dennoch ist ihr Markt durchaus kein „freier“. Konventionen zu mißachten oder gar das existierende Machtgefüge hintergehen oder zerstören zu wollen ist in China etwa so schwierig, wie den Himmel zu stürmen. Dabei gäbe es einen gewaltigen Markt für offene politische Kritik. Ihn zu bedienen hieße jedoch, ein Minenfeld zu betreten. Selbst persönliche Erinnerungen wie Jung Changs „Wilde Schwäne“ sind in China derzeit verboten.

Die Alternativen sind also eine Gefängniszelle wegen politischer Verbrechen und die Versuchungen des Geldes. Der „populäre Geschmack“ eines Marktes „mit chinesischen Vorzeichen“ hat sich mit dem verführerischen „Charme“ des gegenwärtigen künstlerischen Pragmatismus zusammengetan. Leider steigen die Auflagen genau proportional zum Grad der Selbstaufgabe. Wer diesen (ideologisch kontrollierten) Marktplatz betritt – der seinerseits durch eine spezielle Politik und einen marktkonformen Geschmack charakterisiert ist –, dem wird durch seine Erfolge bescheinigt, daß er nunmehr einer bestimmten Ideologie verbunden ist.

Die stillschweigende Zustimmung der Machthaber und die Aufgabe jeder Individualität durch die Künstler – Macht und Geld – bilden eine perfekte Einheit; und ein unseliges Gefüge, das nur entstehen läßt, was man in China mit einem gewissen Sinn für Satire „die Übel des Sozialismus, kombiniert mit den Übeln des Kapitalismus“ nennt. Ich kann das nur als eine „Neue offizielle Kultur“ bezeichnen, eine Kultur, die sich an die Machthaber verkauft hat.

Darin liegt nichts Ungewöhnliches. Die Struktur der traditionellen chinesischen Gesellschaft sah immer so aus, daß der Staat zentral alle Macht versammelte und die Menschen sich nur noch um ihr eigenes Leben kümmerten. Das weniger gezwungene Zusammenspiel von Instinkt und Sinnlichkeit (Essen, Sex, Spielen etc.) wurde dieser Grundstruktur einfach angepaßt. Die sogenannten Reformen der neunziger Jahre haben das chinesische Volk nur zu seinen alten Verhaltensweisen und Haltungen zurückgeführt – wenn auch ohne das wesentliche Element der traditionellen Kultur.

So viel ist sicher: Zwanzig Jahre nach der Kulturrevolution sind keine bedeutenden oder wichtigen literarischen Werke entstanden. Schriftsteller wagen es nicht, kritisch über Politik zu diskutieren, aber überall verlängern sie still und heimlich mit ihren Werken die herrschende Politik. Neuerdings gibt es, weil es keine Politik mehr gibt, auch keine Literatur mehr – außer den großen Stapeln umstrittener Werke, die Inhalte vorgeben, aber keine Form haben; deren oberflächliche Stories keinen Sinn ergeben; in denen immer etwas passiert, aber keine Menschen auftauchen; und sogenannte Betroffenenbücher, deren Beschreibungen tiefster Kränkungen und heimlicher Qualen weit von den Maßstäben wirklicher „Tiefe“ entfernt sind. Für mich ist das die Beschreibung einer Landschaft, aber ohne Blick für sie.

Gegen Ende der achtziger Jahre waren die erfolgreichen Schriftsteller in Wirklichkeit staatlich geförderte Funktionäre. In den neunzigern sind es diejenigen, die, wie Deng Xiaoping riet, „zum Ruhme der Nation beitragen“, indem sie „zuallerst einmal reich werden“. Mit wenigen Ausnahmen ist das „lebendige Wissen“, das sich in den Arbeiten zeitgenössischer chinesischer Schriftsteller ausspricht, unvorstellbar mager.

Nicht, daß alle Zeichen der Kulturrevolution verschwunden sind. Vielmehr hat der politische Jargon von damals überall die Schilder schicker Restaurants inspiriert: Sie tragen jetzt Namen wie „Die Klasse von 66–68“, „Schwarze Erde“ und „Landverschickte Jugend“. Man kann die Kulturrevolution jetzt also essen und trinken. So einfach ist das: Die Geschichte dieser Zeit ist vergessen, ausgerechnet von unserer Generation, die einmal so große Stücke auf sich hielt.

Letzten Endes ist es nicht autokratische Macht, die Kunst entweder duldet oder verwirft. Vielmehr ist es die individuelle Originalität künstlerischer Formen und Inhalte, der es unmöglich ist, Autokratie zu dulden. Künstler müssen ihr Schicksal akzeptieren.

In völligem Gegensatz zu den gern publizierten Hochglanzproduktionen der „Neuen offiziellen Literatur“ wurde 1991 eine wichtige neue Lyrikzeitschrift, Moderne chinesische Lyrik, gegründet. Ihre Aufmachung rief einem unwillkürlich die Veröffentlichungen auf der „Wand der Demokratie“ in Erinnerung: maschinengetippte, auf rauhem Papier abgezogene Matrizen. Und dennoch hat mich dieses Heftchen sehr beeindruckt. Es ist die bedeutendste Veröffentlichung seiner Art, die ich je gesehen habe.

Einen ähnlichen Kontrast vermittelt die Arbeit „65 Kilo“ des Performancekünstlers Zhang Huan. Er hängte sich nackt an Haken an die Decke, so daß sein Blut auf die Drähte eines elektrischen Heizgeräts tropfte und die Luft mit einem salzigen, fleischigen Dampf erfüllte. Ein zweiter Performancekünstler, Ma Liuming, briet in seinem Stück „Lunch“ ganz langsam einen Fisch, bis dieser völlig verkohlt war; der Künstler saß dabei nackt bei minus 20 Grad im Freien. Zwei sehr individuelle Arbeiten mit einer eigenen Sprache.

So ist Kunst immer gewesen. Die literarischen Offenbarungen der späten siebziger Jahre kann man in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Gebrauche deine eigene Sprache, um deine eigene Erfahrung zu beschreiben.“ Um genau das zu verhindern, wurden in Peking 1996 zwei Künstlerkolonien, East Village und West Village, zerschlagen.

Dies bringt uns zu Yu Hua zurück und zu dem, was er während eines Aufenthaltes in Schweden sagte. Als er dort sehr gelehrt über die „humorvolle“ Beziehung zwischen Realität und Fiktion bei Kafka und Faulkner sprach – glaubte er dabei auch an eine Art „humorvoller“ Beziehung zwischen seinem eigenen Werk und der chinesischen Realität?

Zwischen wirklichem Erfolg – schriftstellerischem, künstlerischen und menschlichem – und kommerziellem Erfolg gibt es einen feinen, aber sehr entscheidenden Unterschied.

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