: Freiheit, Abenteuer, Marlboro
Künstlerinnen in Berlin (VI): Andrea Sunder-Plassmann, die Bilder und Geräusche sammelt, sich für alle möglichen Kleinstlebewesen interessiert und Reisen als festen Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit versteht ■ Von Cornelia Gerner
Heute abend geht sie ganz sicher wieder aufs Dach, erfährt man am Telefon: „Es sieht nicht nach Regen aus.“ Zur Oberbaumbrücke also. Auf das verabredete Rufen hin holt Andrea Sunder- Plassmann den Gast über eine Holzstiege hinauf aufs Flachdach des Eckhauses.
Die Künstlerin zeigt einer Gruppe von Leuten ihr Video „Dynamite diamond“. Eine durch Zeitlupe verfremdete und sich immer wiederholende Szene aus dem Film „Misfits“, in der die Wildpferde, kurz bevor sie eingefangen werden, um ihr Leben rennen. In Andrea Sunder-Plassmanns Videosequenz scheinen die Tiere ins Endlose zu galoppieren und bilden an der Hauswand, im Kontext mit dem sorgfältig ausgesuchten, gigantischen Stadtpanorama, ein beeindruckendes Nebeneinander und Miteinander. Kraft, Freiheit und Abenteuer, denkt man. Und Marlboro.
„Über das gewohnte Bild fädle ich mich subversiv in die Wahrnehmung ein, ohne zu schockieren oder abzugrenzen“, reflektiert die Künstlerin. „Ich überlege mir, was die Leute wahrnehmen und denken, und stelle in einem nächsten Schritt den Bezug zum inneren Selbst her.“ „Dynamite diamonds“ zeigt in der urbanen Umgebung das Ineinandergreifen von Alltag und Traumwelt.
März 1997: In der Schöneberger Galerie Inge Herbert läuft die Ausstellung „Äther“. Hochsommerliche Geräusche zirpender Grillen empfangen den Besucher. Dazwischen Straßenlärm, den der Klangkünstler Ole Jarchov per Mikrophon in die Galerie gelenkt hat. Mit sieben Projektoren werden briefmarkengroße Lichtbilder von Insekten auf kleine Zettel geworfen, die mit Schmetterlingsnadeln an die Wand gesteckt sind. Der zweite Raum stellt Makrofotografien von Kleinstlebewesen vor. Sie tauchen aus einer farbigen Unschärfe auf, werden für einen Moment an einer winzigen, für das menschliche Auge fast nicht wahrnehmbaren Stelle scharf und verschwinden wieder im Nebel.
Sie habe sich auf die Welt dieser Wesen einzustellen versucht, auf ihre Größenverhältnisse, erzählt Andrea Sunder-Plassmann, ja eigentlich mehr noch. Es geht ihr darum, eine Art Kommunikation herzustellen und die Insekten im Moment des gegenseitigen Einverständnisses zu fotografieren. Einige der Käfer, Eintagsfliegen oder Blattläuse scheinen direkt den Betrachter anzuschauen. „Man muß dabei sehr ruhig sein. Selbst Atmen ist zuviel.“
Die Arbeiten entstanden anläßlich einer Reise in die Pyrenäen, so, wie fast alles, was sie in den letzten Jahren gezeigt hat, mit ihren Reisen zu tun hat. Reisen als Bestandteil des Werkprozesses: „Ich werfe mich ins Erleben. Sammle Bilder und Geräusche. Danach kommt die Bewußtwerdung, und ich analysiere. Schließlich kristallisiert sich ein Thema heraus, das weiterbearbeitet werden möchte.“
Andrea Sunder-Plassmann wurde 1959 in Münster geboren, studierte an der Hochschule der Künste in Berlin und schloß 1988 bei Dieter Appelt als Meisterschülerin ab. Nach einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für die USA 1990 und dem zweijährigen Auslandsstipendium des Senats für Australien 1992 erhielt sie 1996 vom Künstlerinnenprogramm des Senats für Kulturelle Angelegenheiten ein neunmonatiges Arbeitsstipendium. Zu ihren Ausstellungen zählen eine lange Reihe musealer Präsentationen, wie 1989 „CKunstBO2“ in Moskau, 1992 „Korrespondenzen“ in der Berlinischen Galerie und 1993 anläßlich der fünften Australischen Skulpturen Triennale „Synergia“.
Die Künstlerin sitzt auf einem hellen breiten Sofa inmitten ihrer Ausstellung, den Ordner auf den Knien, und zeigt Fotos von den zwölf Arbeiten der letzten acht Jahre: Darunter die Rauminstallation „Sprache“ – 1989 in Moskau gezeigt, als sie den (vorgefundenen) unsäglichen Müll auf dem Boden des Raumes, in dem sie arbeiten sollte, einfach liegen ließ und an die Wand Zeichen hängte, die das beigefügte entsprechende Wort in russischer Sprache darstellten. Dazu war der Gesang einer Nachtigall zu hören. Außerdem sieht der Besucher Makroaufnahmen von Gräsern und Fruchtfleisch.
Und schließlich „Walk about airborne“, präsentiert 1993 in Sydney. Das Kugelobjekt mit dem Durchmesser von 2,80 Meter und einer Außenhaut aus Federn erscheint als Nest und Fluggerät zugleich. Innen Strohgeruch und rotes Licht, das ein Gefühl von Geborgenheit erzeugt, außen Propellergeräusche und die Stimmen von zwei alten Menschen, die Briefe der ersten englischen Einwanderer an ihre Angehörigen in walisischem Dialekt vorlesen. Ein Synonym für Reisen, Ein- und Auswandern – und für die Suche nach Geborgenheit.
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