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Reisefreiheit

Von den Schwierigkeiten voranzukommen  ■ Von Gabriele Goettle

Der Berliner Hauptbahnhof, ein grauer, flacher Neubau, liegt im östlichen Teil der Stadt, in einem von Baulärm widerhallenden Karree zwischen Karl-Marx-Allee und Spreekanal. Normalerweise erblickt, wer einen Hauptbahnhof verläßt, städtische Häuser und vielleicht auch einen Platz, über den geschäftig Menschen ihrer Wege gehen. Hier jedoch wirkt alles wie ausgestorben, und der stetig vorn auf der Mühlenstraße vorbeiflutende Verkehrsstrom unterstreicht diesen Eindruck noch. Zur Linken steht ein von Tausenden von Dampflokomotiven und Industrieabgasen schwarzbraun verfärbtes großes Ziegelgebäude, das ehemals Güterbahnhof und Teil des Schlesischen Bahnhofs war. Hier und auf dem Wasserweg kamen zur Zeit der Jahrhundertwende, als Berlin noch eine Hochburg der Getreidespekulation und der Herstellung feuerfester Geldschränke war, tonnenweise Zerealien und andere Güter an. Heute wird ein Teil des verfallenden Gebäudes von der Post genutzt. Zur Rechten ist eine Straßenbaustelle bis zur Bahnunterführung. Hinter der Absperrung stehen die Gerätschaften verlassen herum. Vis à vis vom Eingang wartet in der Taxispur nur ein Fahrzeug, und auch dieses fährt mangels Kundschaft bald davon. Auf den Bänken an der Bushaltestelle hingegen geht es lebhaft zu, einige leicht derangierte, aber zu dieser Morgenstunde noch halbwegs nüchterne Trinker unterhalten sich lautstark und gestenreich.

In der Bahnhofshalle sind die Geschäfte geöffnet und leer, der Informationspavillon ist nicht besetzt, im Buch- und Zeitschriftengeschäft blättert die Kassiererin neben der Diebstahlssperre lehnend in der Berliner Zeitung. Vor dem Fahrkartenschalter steht ein älterer Herr mit Regenschirm. Gemessenen Schrittes machen die schwarzuniformierten Wachdienstmänner ihre Runde, am Gürtel das Sprechfunkgerät, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt. Sie gehen immer paarweise. Man hat den Eindruck, daß der Dienstherr, um die Autorität ihres Erscheinungsbildes zu gewährleisten, die Paare nach dem Prinzip: ein Dicker begleitet einen Dünnen, liebevoll aussucht und zusammenstellt. Über Fahrstuhl, Rolltreppe oder Treppe gelangt man in die Unterwelt des Bahnhofs. Der Geruch ist streng. Hier versucht ein grell erleuchteter Drogeriemarkt mit den gängigen Duftmarken und Hygieneartikeln zu überleben. Ein Stück weiter, neben dem Billigsupermarkt „Lidl“, stehen fünf Punks und lassen eine Flasche Wodka Gorbatschow kreisen. Ihre schönen, schmalen Hunde schaun mit aufmerksamen Augen auf die Münder ihrer Herren. Durch eine schwere eiserne Tür wankt ein älterer Mann herein, er sieht aus, als hätte er bis eben geschlafen, draußen in der leeren, verwahrlosten Tiefgarage. Auf der anderen Seite der schlecht beleuchteten Halle sind die Toiletten, wohl der sauberste, weil unbenutzteste Ort im ganzen Bahnhof. Außen stehen die Preise angeschrieben: Toilette incl. Händewaschen 1 Mark; Duschen kompl. mit Handt. u. Seife 5 Mark; Waschkabine 2 Mark; Duschen einf. 4 Mark.

Innen, hinter graulackierten DDR-Klotüren, schieben sich hygienisch einwandfreie Plastikschläuche automatisch über spezielle Klobrillen. Ganz am Ende der Halle befindet sich eine Einrichtung, in der nicht nur Reisende, die ihren Zug verpaßt oder keinen Anschluß bekommen haben, übernachten können, sondern auch und vor allem Arme und Obdachlose kostenlose medizinische Behandlung und Essen erhalten. Der Zulauf ist heftig. Draußen hängen im Schaukasten Adressenlisten für Wärmestuben, Suppenküchen und Notunterkünfte in Ost- und Westberlin. Ganz in der Nähe findet sich ein anderer Aushang: Achten Sie bitte darauf, daß Sie niemand durch Ihr Verhalten behindern oder gefährden, z.B. durch (u.a.): übermäßigen und gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuß. Betteln und Herumlungern im Bahnhof und auf den Vorplätzen. Sitzen und Liegen auf dem Boden, Mißbrauch von Ausstattungsgegenständen. Verstöße gegen die Hausordnung können zu Hausverweis, Hausverbot, Schadenersatzforderung oder Strafverfolgung führen. Für jede absichtlich herbeigeführte Verschmutzung wird pauschal eine Reinigungsgebühr von 30 Mark erhoben. Höhere Forderungen bleiben davon unberührt (...)

Am Hinterausgang des Bahnhofs steht die angesprochene Klientel und wartet. Etwa dreißig Personen, meist Männer mittleren Alters, „lungern“ auf dem Vorplatz herum oder sitzen im Gras auf der gegenüberliegenden Seite. Hier eröffnet sich dem Blick das passende Ambiente. Linker Hand steht eine mehrstöckige Ruine mit leeren, teils vermauerten Fensteröffnungen. Das Dach ist desolat und ringsum an der Außenmauer haben sich Holunderbüsche häuslich eingerichtet. Angeblich sollte in diesem Gebäude ein Obdachlosenprojekt eingerichtet werden, es soll dann aber kein Geld für die Sanierung da gewesen sein. Rechts von der Ruine bis vor zur Straße zieht sich eine wilde Freifläche hin. In den Hecken singen die Amseln, im frischen Gras blühen Butterblumen und Löwenzahn, unter dem schattigen Blätterdach der Bäume haben Ortskundige ihre Autos abgestellt und ein Stückchen weiter ist schon wieder eine Baustelle. Von oben, von den Bahnsteigen, erklingt eine Lautsprecherstimme, die die Einfahrt des Zuges aus Schwedt ankündigt. Fast alle Züge hier kommen aus Schwedt oder fahren nach Schwedt. Ein einziger fährt nach Warschau. Auf den übrigen Bahnsteigen verkehrt die S-Bahn vom einen Ende Berlins zum anderen.

Nun kommt Bewegung in die Wartenden. Von der Straße der Pariser Kommune ist ein alter roter VW-Bus eingebogen, die „Mobile Kleiderkammer“ vom Lausitzer Platz. Was nun folgt, ist ein eingespieltes Ritual, das jeden Montagmorgen hier stattfindet. Der Fahrer baut einen Tapeziertisch auf, seine zwei Helferinnen stellen fünf bis sechs Kästen voller Kleidungsstücke auf den Tisch, ein Sack mit Schuhen wird auf dem Boden ausgeschüttet. Die Bedürftigen treten heran und suchen sich schnell und gezielt heraus, was sie brauchen: T-Shirts, Jeans, dunkle Hosen, Hemden, Jacken, Pullover. Derweilen steht das Personal des Busses diskret etwas abseits, beantwortet Fragen nach Unterwäsche und Socken mit bedauerndem: „Leider ist heute nichts bei.“ Die Suchenden, meist Männer, denen man ansieht, daß sie schon lange nichts mehr zart und sorgsam berühren, nehmen mit seltsam vorsichtigen Gesten die einzelnen Teile hoch, betrachten sie und legen alles, was sie nicht nehmen, sorgfältig wieder zusammen.

Etwas verspätet kommt ein älterer Mann, wünscht einen guten Morgen und murmelt: „Ich bräuchte ein frisches Hemd, so Größe 38 oder 39. Ist so was da?“ Der Fahrer zuckt mit den Schultern und deutet auf eine Kiste: „Da waren vorhin reichlich Oberhemden drin.“ Der Mann streicht sich verlegen über seinen gestutzten weißen Bart und nimmt ein blaues Hemd aus dem Kasten, hält es sich vor die Brust und prüft die Ärmellänge. „Paßt, wackelt und hat Luft!“ ruft ermunternd der Fahrer. „Nee, das ist mir zu eng“, sagt der Mann und legt es zusammengefaltet zurück. Der Fahrer zündet sich eine Zigarette an und empfiehlt: „Dann nehmen Se halt was andres.“ Und es findet sich ein Hemd, Größe 39, weiß, mit zarten grauen Streifen, Perlmuttknöpfen auch am Kragen. Es ist von der Firma Leinweber und tadellos gebügelt. „Na seh'n Se“, sagt der Fahrer und reicht ihm einen graublauen ärmellosen Pulli mit V-Ausschnitt, „hier nehmen Se den doch noch dazu!“ Der Bärtige verstaut die Sa

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chen in seiner Umhängetasche und bemerkt zum Pullover, daß ja noch die Eisheiligen bevorstehen. Zum Fahrer gewandt erzählt er im zufriedenen Plauderton: „Tags bin ich ja meistens am Bahnhof Zoo drüben. Hier ist ja nichts los. Sogar die ganzen Punks sitzen jetzt dort rum mit ihren Hunden und saufen. Aber dieses Wochenende war alles ruhig, da waren alle weg, nach Würzburg, zu diesen Chaostagen. Ich versteh' die ja nicht. Die rennen rum, mit Glöckchen an den Beinen und 'nem Ring in der Nase, verdreckt bis zum Gehtnichtmehr. Und was das Schlimmste ist, die meisten von denen haben ein gutes Zuhause! Das sieht man schon daran, daß sie ihre neuen Niethosen untendrunter tragen und die zerrissenen obendrauf ziehen.“ „Ach was“, sagt der Fahrer, „die haben sie von uns hier, ihre Jeans. Wollen Se auch neue Hosen anziehn?“ Der Mann winkt ab: „Nee danke, meine ist noch gut.“ Der Fahrer und die beiden Frauen beginnen langsam einzupacken. Er wendet sich mit einer Kiste in den Händen noch mal zum Bärtigen um und sagt: „Viele Jugendliche sind ja heute arbeitslos, dagegen können die gar nichts machen...“ Der Mann entgegnet heftig: „Na, meinen Sie, ich kriege Arbeit! Ich habe drei Berufe, war Former im Walzwerk, habe an der Drehbank gestanden, habe meinen Meister gemacht, und nun bin ich noch nicht mal sechzig und muß von Arbeitslosenhilfe leben. Meinen Sie, ich bin das gewöhnt, so ein Leben?“ Der Fahrer stellt seine Kiste ab und sagt beschwichtigend: „Na, was denken Se, was ich bin? Ich mach' das hier als ABM, jetzt grade haben sie's mir um ein Jahr verlängert.“ Der Bärtige geht nicht weiter darauf ein und fährt fort: „Fünfunddreißig Jahre habe ich gearbeitet am Stück. Tausendfünfhundert bis tausendsiebenhundert Mark hab' ich gehabt im Monat. Bei uns in der DDR war das viel Geld, wir waren Bestarbeiter! Und dann kam der totale Zusammenbruch nach der Wende, seit '92 bin ich arbeitslos, bis auf das eine Jahr, wo ich im Gartenbereich Arbeit hatte ... eine Umschulungsmaßnahme war das, aber damit ging das dann auch zu Ende. Die Mauer, die können Se wieder hochziehn, meinetwegen! Ich hab' nichts dagegen. Mir ging's vorher gut und nachher schlecht. Und wenn ich das immer höre, Reisefreiheit, Reisefreiheit! Meine Reisefreiheit, das ist mein Fußmarsch von Suppenküche zu Suppenküche ... und hierher zur Kleiderkammer. So sieht's aus!“ Der Fahrer ist fertig mit Einpacken. Er bietet dem Bärtigen eine Zigarette an, verabschiedet sich und fährt davon.

Der Mann raucht und schaut dem Bus nach. Meine Frage, ob ich ihn zu einem Kaffee einladen darf, beantwortet er ohne Zögern mit einem erfreuten: „Ja, das nehm' ich gerne an.“ Während wir zum Imbißstand in der Bahnhofshalle gehen, erzählt er weiter: „Sehn Se mal, ich war im Werk seit 1.9.55. Damals hab' ich angefangen und war bis zum Schluß dort, fünfunddreißig Jahre. Wir haben das damals ausgerechnet gekriegt von einem Rechtsanwalt aus dem Westen, unsere Abfindungen. Bei mir wären das so um die 90.000 Mark gewesen, die ich hätte bekommen sollen, aber nicht bekommen habe. Keiner von uns hat eine Abfindung bekommen. Der hat alles in den eigenen Sack gesteckt, der neue Eigentümer. Das war ein Stahlbaron aus Oberitalien, haben sie immer gesagt, Emilio Riva. Ich hab' den nie gesehen. Der hat ganz Henningsdorf und auch die Stahlwerke Brandenburg aufgekauft von der Treuhandanstalt, aber einen Sozialplan hat der nicht beachtet! Ich hab' mal nachgerechnet, in den fünfunddreißig Jahren hab' ich, sagen wir 500.000 Mark verdient, und der, der unser Werk ruiniert hat, der kam leicht aufs Doppelte, pro Monat. Pro Monat! Das kann sich kein normaler Mensch vorstellen! Und ich bin mittlerweile so weit unten angekommen, daß ich mir fremder Leute Kippen aufsammle vom Boden.“

Vor dem Imbiß angekommen frage ich ihn, ob er denn jetzt was zu rauchen habe. Er hat nicht. Während er unter demonstrativer Hinterlassung seiner Tasche Zigaretten ziehen geht, besorge ich zwei Becher Kaffee und Brötchen. Es fällt mir auf, wie hell der Backshop ist, wie freundlich hingebreitet die Brötchen und Brote daliegen, wie die Tüte raschelt, wie selbstverständlich Geld und Ware den Besitzer wechseln. Das alles ist wie ein Bild aus ferner, heiler Welt. Vor der Tür in der Bahnhofshalle beginnt sogleich die Wildnis. Spatzen fliegen die Imbißtische an, hinkende Tauben schleppen sich, Kreise ziehend, um die Speisenden, werden sie verscheucht, fliegen sie durch die Rolltreppenschächte hinunter in die Tiefetage.

„Das is' was Gutes. Mal 'nen richtigen Bohnenkaffee und dazu was zu rauchen ... Das hatte ich alles, früher mal, Wohnung, Boot und Auto. Zuerst einen Trabbi, dann einen Wartburg, dann hab' ich einen Lada gehabt, und zum Schluß war's dann wieder ein Wartburg, ein Geschenk von meinem Schwiegervater. Und nun ist alles weg! Frau, Wohnung, Auto und Boot. Das hab' ich alles meiner Frau überlassen, die soll damit machen, was sie will, mir ist's egal. Ich war zweimal verheiratet. Die erste Frau starb an Knochenkrebs, und die zweite hat mich übel behandelt, mir meine Kinder weggenommen, alles. Nun is' sie selber schwerkrank, ich geb' ihr Unterhalt, damit sie nich' aus der Wohnung raus muß, denn die Miete ist ja von 65 Mark auf fast 700 Mark gestiegen, von der Wende bis heute. Wer kann soviel zahlen? Die Kinder sind wenigstens selbständig, der Junge hat 'ne ABM-Stelle. Ja ... dann hab' ich's ja noch mal versucht, mit einer Lebensgefährtin, Grundstück gekauft von den Ersparnissen, draußen in Nauen, sechshundert Quadratmeter, 'ne Laube draufgebaut, alles massiv und isoliert. Die hatte Dreiraumgröße, kleine Küche, Dusche mit WC, gefliest. Und dann, als alles fertig war, ging die Lebensgemeinschaft in die Brüche, es war meine Schuld, ich hab' damals gerade angefangen zu saufen. Ich hab' ihr alles überlassen, an sich is' ja mindestens die Hälfte meins. Aber ich war nie mehr draußen seitdem, ich will das gar nicht wiedersehen!“

Ich frage, wo er jetzt wohnt, schulterzuckend und ein wenig trotzig sagt er: „Auf der Straße eben! Mal hier, mal da. Frische Sachen bekomme ich aus der Kleiderkammer, die alten werf' ich gleich wieder ein in den Spendencontainer vom Roten Kreuz, essen geh' ich in den Suppenküchen, duschen kann ich gleich hier unten, ist mir aber, ehrlich gesagt, auf Dauer zu teuer für fünf Mark. Da kann ich schon wieder einen Tag von leben und rauchen. Im Sommer kann ich mich ja draußen im See baden. Über den Winter war ich in solchen Einrichtungen überall, Notunterkünfte, aber das ist nichts. Da lebt man dicht an dicht mit vielen armen Leuten zusammen und alle haben was zu klagen, was an den Füßen, mit der Lunge oder dem Magen, der andere hat Fußpilz und war vor dir in der Dusche, der andere schnarcht die ganze Nacht wie ein Sägewerk. Nee, das ist nichts für mich, da bin ich lieber für mich alleine in meinem Schlafsack. Damals, als ich weg bin von zu Hause, hab' ich mich in Lichtenberg in den D-Zug gesetzt, mit 'ner Fahrkarte ins Ruhrgebiet, dort wollte ich mir in einem Stahlwerk neue Arbeit suchen. Ich hab' mich vollgesoffen, bin eingeschlafen, wachgeworden bin ich in Gelsenkirchen. Das war meine erste und einzige Reise nach dem Westen. Beim Arbeitsamt haben sie mich ausgelacht, arbeitslose Stahlarbeiter hatten die selber mehr als genug. Damals hab' ich mit dem Saufen angefangen. Obwohl ich noch gar nicht wußte, was noch alles auf mich zukommt. Ich hatte ja keine Ahnung von nichts! Hatte ja immer mein geordnetes Leben gehabt und nun, das kannte ich ja gar nicht, daß man plötzlich schief angeschaut wird, wenn man wo steht oder ein bißchen länger ohne Zeitung, ohne alles auf 'ner Bank sitzt. Wenn ich kein Ziel habe, kein Geld und nix mehr, dann darf ich nicht einfach irgendwo mich hinstellen und hinsetzen, zum Ausruhen, nicht mal auf 'ne Parkbank, das ist alles nur für Menschen mit Wohnen und Arbeit. Das war mir neu, daß Menschen ohne Wohnen und Arbeit sich nirgendwo mehr blicken lassen können. So was gab's einfach nicht bei uns in der DDR. Da hatte jeder seins und konnte es sich einrichten. Das alles wäre mir nicht passiert, wenn die Wende nicht gekommen wäre, ich würde jetzt, na, wie spät isses ... elfe, jetzt würde ich noch an meiner Maschine stehen und mich aufs Mittag freuen, in 'ner guten Stunde so was, mit den Kumpeln eine rauchen, in der Schlange anstehn bei der Essensausgabe, bißchen quatschen, vielleicht gibt's Klöße mit Schweinebraten, wer weiß ... ich darf gar nicht dran denken, sonst kommen mir die Tränen. Mein ganzes Leben, das war Henningsdorf!“

Um ihn ein wenig abzulenken, erzähle ich, daß mir vor einiger Zeit ein Mann begegnet ist, der auch Stahlarbeiter in Henningsdorf war, und zwar in Frauenkleidern steckend, mit offizieller Erlaubnis der Betriebsleitung, Wally Hiller habe er sich genannt. Wie elektrisiert starrt mich der Bärtige an, mustert mich mit seinen hellen Augen und ruft dann aus: „Mann! Das gibt's doch nich', so was. Walter hieß der, Walter Hiller, ich seh' ihn vor mir. Bei dem hab' ich gelernt, an der Fräsmaschine, 1955, '56, '57, so was. Der lebt noch? Der war doch damals schon so alt wie ich jetzt bin. Der muß doch schon an die Hundert sein? Ach, isser? Na so was, und immer noch rüstig? Mann, oh Mann! Das ist vielleicht eine Überraschung, der Walter Hiller ... Der war ja bekannt in ganz Henningsdorf wie ein bunter Hund, so wie der rumlief, in seinen Frauenkleidern. Anfangs hab' ich mich ja ziemlich geschämt, daß ich bei ihm lernen mußte, sie haben immer gesagt: ,Na, wirst du jetzt auch ein warmer Bruder, meine Süße!‘ – aber mit der Zeit wurde es besser, und der Hiller, der war prima in Ordnung, immer lustig, aber eben, ich will mal so sagen, mehr so ein empfindsamer Mensch war er, eben anders als die anderen. Meinetwegen kann ja jeder sein wie er will, der eine so, der andere so, Hauptsache, der Charakter stimmt. Sagen Sie ihm mal einen schönen Gruß von mir, vielleicht erinnert er sich noch, ich bin der Manfred J. Na, da können Se mal sehen, das war Henningsdorf, da gab's für alle Platz. Er war ja dann Ende der 60er Jahre verschwunden, war wohl schon Rentner. Und ich hab' fünfunddreißig Jahre dort gearbeitet, ohne eine einzige Fehlschicht! Und heute bin ich ganz unten angekommen, und nicht nur ich. Viele von meinen alten Kumpeln liegen auf der Straße und andererseits werden Millionen ausgegeben für Gebäude, drüben, für den Reichstag, also was da dran herumgebaut wird, oder der neue Bahnhof, es gibt so viele Bahnhöfe in Berlin, aber das reicht immer noch nicht. Und dieser hier soll nicht mehr Hauptbahnhof heißen, weil er kein Weltniveau und nichts hat, keinen Anschluß, wahrscheinlich soll er wieder Schlesischer Bahnhof heißen wie vor dem Krieg oder Ostbahnhof wie nach dem Krieg. Jedenfalls macht man uns alles platt hier, alles! Aber Geld ist nicht da, überall muß angeblich gespart werden. Aber am vergangenen Sonntag kam ein Sonderzug aus Bonn voller Politiker. Die wurden gebracht, Kost und Übernachtung, alles frei, sie sollten sich Berlin mal anschaun, ob's auch gut genug für sie ist. Stadtrundfahrt war auch frei, alles umsonst. Der Senat will jetzt 50.000 Singlewohnungen anmieten, für die ersten, die herkommen, steht in der Zeitung. Also uns mietet niemand 'ne Wohnung an, und wir sind alle Mann Singles, wir Obdachlosen. Die kriegen Hilfen zum Lebensunterhalt und Unterstützungsleistungen bis zum Gehtnichtmehr, als wären sie verdiente Veteranen und nun schwerkrank, alles muß ihnen gerichtet werden. Aber für uns, die wir auf der Straße leben, gibt's nicht mal ein Klo umsonst. Am Bahnhof Zoo kostet's sogar einsfuffzig, wer kann denn das zahlen? Also machen es die Armen wie die Hunde, draußen an der Außenmauer, sogar die Frauen. Der ganze Bahnhof stinkt nach Urin, unzumutbar! Was sollen denn die Reisenden denken, wo sie da angekommen sind? Überhaupt ist die ganze Stadt voller Müll und Unrat. Man kann sich nirgends hinlegen, ohne sich schmutzig zu machen. Sie sparen jetzt auch an der Straßenreinigung und am Wasser in den Brunnen, an allem. Ich halte das nicht aus. Hab' mir jetzt weiter draußen was gesucht, in Lehnitz, das ist bei Oranienburg. Der Lehnitzer See ist dort, man kann sich sauber halten, ich hab' da eine Garage gefunden, das Haus steht leer und wird abgerissen, vielleicht im Herbst. Die Garage ist noch ziemlich gut, das Dach dicht, ich hab's mir ein bißchen eingerichtet mit Sperrmüllsachen, und was das Wichtigste ist, meine Tür kann ich hinter mir zumachen. Die kennen mich dort schon, ich geh' da ein und aus, es sagt kein Mensch was! Nur ein großes Problem hab' ich dabei, das Schwarzfahren. Ich hab' ja bald zwanzig Stationen zu fahren, so was geht auf Dauer nicht ohne Kontrollen ab, manchmal muß ich dann doch mit den Berufstätigen fahren ... paarmal bin ich schon erwischt worden, aber ich hatte keinen Ausweis, kein Geld, kein Obdach, also haben sie mich laufen lassen. Aber es kann auch anders enden. Vor 'ner Weile bin ich mal mit dem normalen Zug schwarzgefahren, ich wollte nach Schwedt, einen Kumpel besuchen. Rausgeschmissen wurde ich bereits in Niederfinow, da wo das Schiffshebewerk ist. Es war Abend, und ich ging zuerst raus auf ein Feld und hab' mich zwischen Strohballen zum Schlafen hingelegt. Mitten in der Nacht fing's an zu regnen wie aus Gießkannen, und ich hab' mich in der Nähe in ein Abrißhaus gerettet, das war eine ehemalige LPG.

Die Ställe und alles war schon zerschlagen. Mann, hab' ich

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gefroren! Ich hatte ja nichts mit, und dann fing's auch noch an durchzuregnen. Ich hab' mich dann in ein altes Metallspind gesetzt und bin eingeschlafen. Morgens bin ich losgegangen, zu Fuß bis Eberswalde. Als ich ankam, war ich trocken und warm war's mir auch. Von da aus bin ich dann nach Berlin zurückgefahren, bis hierher, Hauptbahnhof, und es kam nicht einer kontrollieren! Da hatte ich mal Glück gehabt. Man kann ja auch zu Fuß gehen, wenn man viel Zeit hat so wie ich. Ich geh' viel zu Fuß. Von hier zum Zoo, kein Problem, aber meistens fahr' ich bis Friedrichstraße und geh' dann Unter den Linden lang und durchs Brandenburger Tor. Im Westen drüben fahr' ich nich' gern schwarz ... Na, und dann quer durch den Tiergarten. Man sieht was von der Welt und macht sich so seine Gedanken über alles. Mal bin ich sogar von Prenzlau nach Berlin gelaufen, hundertzwanzig Kilometer waren das! Um zweie morgens bin ich los, um elfe abends war ich da. In der Schorfheide hätte ich am liebsten Schluß gemacht, aber ich hatte meinen Ehrgeiz. Das war Sommer '93. Vierzehn Tage Muskelkater, neun Blasen an den Füßen, und die Schuhe ham den Geist aufgegeben. So was mach' ich nicht noch mal. Na ja, man lernt alles, mit der Zeit.“

Dieser Text ist der erste aus einer längeren Reihe von Reportagen über die Armut in Deutschland. Sie rückt gefährlich nahe, wirkt aber im Vergleich zur Armut vor hundert Jahren oder der in anderen Weltgegenden kaum wie eine echte Misere. Hierzulande vollzieht sich Armut nicht als Sturz der Besitzlosen in den Abgrund, unsere Bedürftigen werden von helfenden Händen gestützt und fürsorglich hinabbegleitet. Der Vorgang schont zwar die Augen der bislang noch nicht Gefährdeten, die der Betroffenen hingegen nicht. Sie müssen lernen, daß auf geordnete Lebensverhältnisse kein Anspruch besteht, daß es lediglich das Geld war, das ihnen die Welt heimelig erscheinen ließ und schlüssigen Kontakt mit der Gesellschaft herstellte. Der Mangel an Geld entzaubert das freundliche Paradies mit einem Schlag und macht es zu einem unwirtlichen Lebensraum voll gewalttätiger Fakten. Auf den Fluren der Sozial- und Arbeitsämter, in den Suppenküchen, Wärmestuben und Nachtasylen kommen die widersprüchlichen Geschichten und Gedankengänge prompt zur Sprache. Die Reportagen aus dem Abgrund sind eine Art Mitschrift der kleinen, alltäglichen Ereignisse im Leben der Armen, Momentaufnahmen all der irrwitzigen Versuche und Strategien des Überlebens, im reichen Deutschland kurz vor der Jahrtausendwende. Tragikomische Situationen, atemberaubende Persönlichkeiten, unerwartete Dialoge und Handlungen werden dafür sorgen, daß die Geschichten Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, nicht langweilig werden. Betrachten Sie sie als Bergführer für den Abstieg nach unten, als moderne Form des klassischen Sozialromans, als „Meine Universitäten“.

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