: 700 Namen für eine Kuh
■ Die männlichen Massai in Kenia und Tansania halten noch an ihren Traditionen fest. Geld als Handelsgrundlage hat die Sozialstruktur umgekrempelt. Frauen setzen auf Ackerbau
Der rohen Kraft zweier Männer bedarf es dann doch, um die magere Kuh zu bändigen: Einer muß an den Ohren zupacken, ein Helfer mit Leibeskräften am Schwanz ziehen, bis das Stück Hornvieh seinen Widerstand aufgibt. Dies ist der Moment, auf den der Metzger gewartet hat: Flugs wirft er seinem Gesellen das Maßband zu, schlingt es schnell um den Wanst des zappelnden Tieres und ruft laut das zu erwartende Gewicht in die Menge.
Schätzen ist die große Kunst auf dem Viehmarkt im tansanischen Maserati. Hier, wo allmonatlich mehrere hundert Massai zur Auktion zusammenkommen, werden die abgehungerten Fleischspender nach Augenschein verkauft: Wer gut taxiert, kann ein vortreffliches Geschäft machen. Viel Vieh verheißt den Massai-Männern auch heute noch Reichtum und Ansehen.
Die erst vor wenigen Jahren realisierte Einführung der Geldwirtschaft hat aber die Strukturen der ostafrikanischen Stammesgruppe in vielerlei Hinsicht umgekrempelt. Bargeld spielt eine zunehmend größere Rolle als das archaische Handelsgebaren, bei dem zuvor allein Rinder oder deren Produkte getauscht wurden.
Eine Fotopirsch in den Großwildreservaten Kenias und Tansanias steht auf der Liste wohl jedes Ostafrikareisenden. Daß neben Elefant, Giraffe oder Löwe auch Menschen dieses Areal beanspruchen, wird oft vergessen. 190.000 Massai treiben hier mehr als das Siebenfache an Rindern über das Land. Obwohl sich die Prokopfzahl an Vieh in den beiden letzten Jahrzehnten deutlich reduziert hat, verschärfen sich die Probleme der Überweidung: Die Vegetation verträgt keine allzu starke Nutzung durch Haustiere, da diese mit ihren Hufen das Wurzelwerk beschädigen und auch Pflanzenteile abgrasen, die zum Überleben der Art notwendig sind.
Weil die Ziegen junge Triebe fressen, weichen die Bäume mehr und mehr einem Teppich aus dichtem Dornengestrüpp. Eine ökologische Zeitbombe also, die bei ihrer Explosion zudem die Nummer eins unter den kenianischen Devisenbringern, den Tourismus, schwer in Mitleidenschaft ziehen würde.
Der Konflikt mit dem Naturschutz hat seine Wurzeln aber schon in der Kolonialzeit: Die ersten weißen Siedler in Britisch- Ostafrika steckten die Hirten- Halbnomaden zu Beginn des Jahrhunderts in Reservate und verwehrten ihnen den Zugang zu vielen der ursprünglichen Trockenweidegebiete. Die „Fürsorge“ der Regierung beschränkte sich auf das Eintreiben von Steuern.
Nicht einmmal die Unabhängigkeit Kenias im Jahre 1963 änderte etwas daran: So gehören die Distrikte im Südwesten heute zwar zu den reichsten – sie nehmen mehrere Millionen Dollar Eintrittsgebühren für die Nationalparks ein –, und doch mangelt es an Schulen und Gesundheitsposten. Auch der Straßenbau läßt sich nicht anders als mit dem Prädikat „mangelhaft“ kennzeichnen. Auf der tansanischen Seite sieht es nicht besser aus: Nur eine staubige Land-Rover-Piste führt derzeit in die Tierparadiese.
Die Enge der Siedlungsräume, in die die Massai heute abgedrängt sind, macht althergebrachte Lebensweisen zunichte: Waren die Herden früher Kultur- und Nahrungsgrundlage zugleich, so versuchen Staat und Entwicklungsexperten – auch entgegen ökologischen Zweckmäßigkeiten –, die Seßhaftigkeit als höhere Zivilisationsform zu etablieren. Dabei ignorieren die Massai die Staatsgrenzen genauso wie die umhervagabundierenden Herden der Büffel oder Gnus.
Um der voranschreitenden Verödung des Landes zu begegnen, wollen die Regierungen den Weidewechsel aber unter Kontrolle bringen. So ist das Tränken an den nie versiegenden Quellen im tansanischen Wildschutzgebiet des Ngorongoro-Kraters heute staatlich geregelt: „Gerade einen Tag in der Woche dürfen die verschiedenen Klans ihre Tiere dort hinuntertreiben“, klagt einer der Massai- Hirten in seinem rotkarierten Schultertuch.
Das jahrhundertelang eingespielte Rotationssystem zur Regeneration der Weiden ist durch die Lenkungsmaßnahmen zerstört. Die Massai-Bevölkerung indes wächst weiter: Sie hat sich in den vergangenen dreißig Jahren nahezu verdoppelt. Die Rinder als alleinige Lebensgrundlage werden über kurz oder lang ausgedient haben.
Doch so einfach läßt sich eine Kultur nicht über den Haufen werfen. Die tiefe Verwurzelung in der Tradition zeigt sich allerorten: Vor den Geländewagen, die die mit teurer japanischer Optik ausgestatteten Touristen zur visuellen Großwildhatz kutschieren, huschen speerbewehrte Krieger davon. Assimilierung scheint für die Massai ein Fremdwort. So zeigen sie sich auch in Nairobi oder anderen Metropolen zumeist noch im schmuckvollen Ornat aus Perlen, Federn und Leder.
Die Großviehzucht stellt das Leitmotiv ihrer Lebensweise dar. Dem wird auch eine restriktive Politik zum Schutz der Ökologie nicht den Garaus machen können. Allein die Existenz von über 700 Bezeichnungen für eine Kuh mag die fundamentalistische Liebe zum Rind belegen.
Experten sehen eine Lösung in der Kommerzialisierung der Ökonomie. Doch wie soll das funktionieren in einer Lebensform, die überhaupt nicht auf die Produktion von Überschüssen ausgelegt ist? Mit dem Aufbau einer Straußenzuchtstation, von Baumschulen und Ackerbau-Initiativen zeigt sich vor allem der Kenya Wildlife Service (KWS), der die Nationalparks verwaltet, engagiert im Spagat zwischen dem Erhalt der traditionellen Kultur und den Maßnahmen zum Artenschutz.
Aber auch der KWS tut sich schwer, gegen die Ignoranz der männlichen Massai anzukommen. Diese sind stur dem althergebrachten Wertesystem verhaftet, das das Prestige einer Familie allein nach der Höhe des Viehbestandes bestimmt. Die Frauen dagegen zeigen sich äußerst interessiert am Anbau von Getreide und Gemüse. Neben Hirse, Bohnen und Linsen ist es vor allem der Mais, der eine neue Nahrungsgrundlage darstellt und als stärkendes ugali immer öfter auf dem Speiseplan steht. Doch ist es nicht nur die Angst um die Versorgung ihrer Familien, die die weiblichen Stammesmitglieder ermutigt, sich über die kulturell verankerte Verachtung des Landbaus hinwegzusetzen: Die Frauen waren seit jeher dafür verantwortlich, Milch, Butterfett, Leder, Hühner und andere Tierprodukte eigenverantwortlich zu vermarkten. Der Einzug des Geldes jedoch verdrängte sie mehr und mehr aus ihren angestammten Plätzen im Viehmanagement. Mit der Eroberung neuer Handlungsbereiche, die nicht der Kontrolle ihrer Ehemänner unterliegen, erkämpfen sich die Frauen ein Stück ihrer Autonomie zurück.
Nur allzu oft müssen die Massai als farbenfrohes Postkartenmotiv herhalten und sollen Touristen nach Ostafrika locken. Und so gerne sich die Regierungen der Ethnofaszination bedienen, so wenig zeigen sie sich um die Fortexistenz der Stammeskultur bemüht. Vielmehr weist der Umgang mit dem Massai-Volk auf eine jahrzehntelang verfehlte Minderheitenpolitik hin.
Besonders mangelnde Bildung macht dem Stamm zu schaffen. Dies wird von den Politikern oft ausgenutzt. Im kenianischen Massai-Distrikt Narok beispielsweise seien ganz bewußt Unerfahrene auf hochrangige Posten gehievt worden, kritisierte jüngst ein Autor des East African Standard. So sei der Einfluß auf deren Entscheidungen gesichert.
Wollen sie nicht auf Dauer den kürzeren ziehen, müssen sich die Massai gegen solche Restriktionen wehren. Der Moderne wird das Halb-Millionen-Volk der Massai auf Dauer nicht entgehen können. Bis dieser Prozeß aber vollzogen ist, solange werden noch Welten in dem Grenzgebiet unter den Hängen des Kilimandscharo aufeinanderprallen: wohlgenährte Touristen, nur durch die Scheibe des klimatisierten Überlandbusses von dem speerbewaffneten Massai- Krieger getrennt – ein Gegensatz, wie er größer kaum sein könnte. Folkert Lenz
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