Shakespeare in der Betonvorstadt

■ Das „Romeo & Julia Projekt“mit Jugendlichen aus der Lüssumer Heide hatte im Kulturbahnhof Premiere

Die Idee, anhand der berühmtesten Liebesgeschichte aller Zeiten von der zeitgenössischen Jugend mit ihrer Gewalt und Zärtlichkeit zu erzählen, ist nicht neu. Lange vor Baz Luhrmans diesjähriger poppig-brillianter Filmadaption hatte schon Leonard Bernstein „Romeo & Julia“radikal mit seiner „West Side Story“modernisiert. Verona lag also vor Lüssum schon in New York und Miami, und wie bei den beiden Vorläufern sind auch in dieser neuen, nordbremischen Version Musik und Bewegung mindestens genauso wichtig wie die Poesie von Shakespeare. So haben die Theater-Regisseurin Christina Friedrich, der Choreograph Thomas Stich und der Musiker Jörg-Martin Wagner zusammen mit 18 Jugendlichen türkischer, libanesischer, polnischer und deutscher Nationalität aus der Betonvorstadt Lüssumer Heide in vier Monaten diese Produktion entwickelt.

Und da im Grunde die Besetzung vor der Besetzungsliste feststand, bestand die Aufgabe der drei in erster Linie darin, das Stück nach den Fähigkeiten und Interessen der Akteure umzubasteln. Weil natürlich alle die Hauptrollen spielen wollten, gibt es etwa gleich drei Romeos und Julias in dieser Version: Drei „echte“Liebespaare wechseln sich in den Rollen von Szene zu Szene ab, und dadurch wird es den Zuschauern nicht gerade leicht gemacht, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Aber es war wohl auch kaum jemand zu diesen Aufführungen gekommen, der gespannt der Geschichte folgte oder auf eine besonders eindrucksvolle Interpretation seiner Lieblingsstellen hoffte.

Das Stück liefert den Rahmen, in dem die Akteure sich mit ihren Gesten und in ihrer Sprache ausdrückten. Ein paar Kernsätze von Shakespeare werden schon gesprochen, aber bei einer Keilerei schreien die Kumpanen dann doch lieber „Tybalt, hör auf!“, eines der wichtigsten Treffen des Stückes wird mit „So um neun!“verabredet, und ein Monolog wird auf „Das ist nicht mein Bier!“reduziert. Christina Friedrich war so klug, gar nicht erst zu versuchen, den Laienschauspielern Shakespeares Poesie einzudrillen. Und das Dilemma der Balkonszene, die man einfach nicht aus dem Stück herauskürzen darf, löste sie mit einer witzigen Finte, indem ein Akteur auf einem Stuhl sitzend sie einfach aus einem dicken Buch vorliest.

Aber am wohlsten fühlen sich die Darsteller auf der Bühne offensichtlich, wenn sie sich einfach bewegen können. Obwohl sonst überall reduziert wurde und diese Romeo & Julia-Version mit etwa 75 Minuten sicher eine der kürzesten der Theatergeschichte sein wird – die Kampfszenen blieben alle drin. Sowohl die Auseinandersetzungen wie auch die Liebesbezeugungen des Stückes werden eher körperlich als verbal dargestellt. Thomas Stich choreographierte hier eher in der Tradition der Peking Oper, und es ist konsequent, wenn die Sterbeszene am Ende ohne ein gesprochenes Wort gespielt wird.

Die verschiedenen Bilder der Inszenierung folgen sehr unvermittelt aufeinander, so daß man oft kaum erkennt, wer gerade in welcher Rolle was macht. Um so wichtiger ist daher die Musik, die jeder Szene ihren eigenen Rhythmus gibt. An den vier Ecken der Bühne stehen jeweils zwei Musiker vor Blechfässern und anderen Perkussionsinstrumenten, die sie sich zum Teil auf dem Schrottplatz zusammengesucht und dann geschweißt hatten. Zugleich brachial und erstaunlich synchron trommeln sie darauf eine urbane Dschungelmusik, die ideal zu der aggressiven Energie der Aufführung paßt.

Dies ist ungeschliffene, bewußt grob gehaltene Inszenierung, die nicht viel Federlesens mit dem Autor oder mit dem Publikum macht. Eine gewagte, manchmal unverständliche, aber nie langweilige Mischung aus Sozialarbeit und Theater wird hier gezeigt, bei der sich allerdings manchmal der Verdacht aufdrängt, daß sich die wirklich interessanten Dramen während der Erarbeitung und bei den Proben abgespielt haben. Auf den Innenblick des „Romeo & Julia Projekts“müssen wir aber noch mindestens ein Jahr lang warten, denn die Bremer Filmemacherin Dagmar Gellert („Torfsturm“) dokumentiert die Produktion mit der Kamera.

Wilfried Hippen

Weitere Aufführungen am 26./27./28.9. im Concordia sowie am 5. und 6. 10. im Schlachthof