: Das letzte Refugium
■ Karin Beier übersetzt Anthony Burgess' Clockwork Orange am Schauspielhaus in die Neunziger: Gewalt als Flucht aus der Wattewelt
Alex zieht mit seiner Gang durch die Gegend, immer auf der Suche nach dem Kick. Ihre Droge ist Gewalt, die als Show inszeniert wird. Und wie bei jeder Droge muß die Dosis ständig erhöht werden.
Anthony Burgess' Roman Clockwork Orange von 1962 wurde vor allem durch Stanley Kubricks Film 1971 zum Kultstoff. Trotz der virtuosen Verfilmung des politisch brisanten Textes wagt sich nun Karin Beier,von der zuletzt die Shakespeare-Inszenierungen Was ihr wollt und Sturm am Hamburger Schauspielhaus zu sehen waren, an eine zeitgemäße Bühnenadaption.
Die Geschichte des aggressiven Beethoven-Liebhabers Alex, der von seinen Freunden verraten und durch medizinische Manipulation selbst zum Opfer einer durch und durch brutalen Gesellschaft wird, ist angesichts der ständigen Diskussion um innere Sicherheit und den Umgang mit Straftätern heute wieder aktuell. Gewalt wird von den Medien täglich serviert, die Splatterkultur boomt. Während jedoch in den Sechzigern die Macht des Staates als etwas Greifbares und somit auch Angreifbares gesehen wurde, sind die Zentren der Macht heute weniger offensichtlich. Widerstand ist kaum noch möglich, da die Reibungsflächen abhanden gekommen sind. Der Identitätsverlust, den Alex durchleidet, hat im Zeitalter der virtuellen Computerwelten eine andere Qualität.
„Alex ist gewalttätig, um sich zu spüren. Gewalt ist das letzte Refugium in einer Welt aus Watte, in der keine wirkliche Kommunikation mehr stattfindet. Ich sehe die Ursache der Gewalt in diesem Wattebausch. Alex möchte am Schluß fast, daß man ihn schlägt, nur um Kontakt zu haben“, sagt Karin Beier. Die Regisseurin will Gewalt nicht erklären, sondern offenlegen, daß Jugendliche Gewalt ausüben, um sich abzugrenzen. Das ambivalente Verhältnis unserer Gesellschaft zur Gewalt soll deutlich werden: „Man ist als Zuschauer in einer voyeuristischen Position. Es ist schwer zu sagen, ob einen die Gewalt anekelt oder auch fasziniert.“Beier „möchte die Frage stellen, wo man mit einer Gesellschaft hinkommt, wenn man Gewalt ausüben muß, um Grenzen zu spüren.“
Während Alex bei Burgess durch Konditionierung aggres-sionsfrei gemacht wird, genügt in der Stückfassung ein kleiner medizinischer Eingriff. Durch die Gentechnik wird die Frage, was noch Mensch und menschlich ist, auf erschreckende Weise neu gestellt. Der betont stilvolle Schläger Alex ist nach der Behandlung ein moderner Maschinenmensch, der noch gerade genug Persönlichkeit besitzt, um sich umzubringen.
Katja Fiedler
Premiere: Freitag, 19 Uhr, Schauspielhaus
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