: Algerische Pietà
Es bedurfte nur eines einzigen Bildes, um den Weltmedien den Alptraum Algerien zu vergegenwärtigen. Der algerische Pressefotograf Hocine hatte es nach dem Massaker von Bentalha im September aufgenommen ■ Von Michel Guerrin
Das Bild zeigt eine verzweifelte Mutter, gestützt von einer anderen Frau – eine Pietà also mit einer für uns eindeutigen kulturellen Konnotation. Es ist zeitlos, kein Nachrichtenbild. Seine Veröffentlichung auf den Titelseiten der meisten französischen, spanischen, italienischen, libanesischen und US- amerikanischen Zeitungen machte es zur Ikone des Krieges in Algerien. Es transportiert eine große Emotionalität – und einige Informationen: „Diese Frau hat alle ihre acht Kinder verloren; die sie stützende Frau verlor ihre Eltern.“ Alle ermordet im Massaker von Bentalha. Hocine, der Fotograf, ist der einzige von Agence France Presse (AFP) akkreditierte Fotograf in Algerien.
Die Geschichte des Fotojournalismus ist voll solcher „Pietàs“. Der Anblick von Frauen, die um die Gefallenen weinen, ist offenbar „akzeptabler“ als der des Schlachtfeldes selbst oder der von aufgeschlitzten Bäuchen schwangerer Frauen. „Die Menschheit verträgt den Anblick von zuviel Blut nicht“, sagt Goskin Sipahioglu, Chef der Fotoagentur Sipa. Deshalb boten sie ein weniger erschreckendes Bild an, eines, das Mitleid weckt. In Algerien ist es in keiner der zehn unabhängigen Zeitungen des Landes erschienen.
Die Ereignisse am Tag nach dem Massaker in Bentalha am 22. September zeigen die Schwierigkeiten der Fotografen in einem Land, in dem man – so einer von ihnen – „Kameras für gefährlicher hält als Kalaschnikows. Die Leute sind gewöhnt, häufiger eine Waffe als eine Kamera zu sehen.“ Nachdem sie von dem Massaker gehört hatten, erreichten einige Fotografen morgens den Schauplatz. „Es war das totale Chaos“, berichtet Hocine. „Ich wurde mehrfach von Zivilpolizisten angehalten und konnte meine Kamera nicht herausholen. Die Leichen der Opfer waren in einer Schule aufgereiht; dort kam man nicht hinein, ohne an Massen von davor herumstehenden Leuten vorbeizumüssen.“
Bei seiner Recherche über die genaue Zahl der Ermordeten gelang es einem Reporter der unabhängigen Zeitung Al Watan, auf den Friedhof zu kommen. „Das ist inzwischen Standardpraxis: Wir zählten die Gräber. Die offizielle Zahl war 85; wir zählten 252.“ Viele algerische Fotografen fragen sich nach der Bedeutung ihrer Bilder. „Die meisten Massaker finden nachts statt. Wenn wir eintreffen, ist das Blut an den Wunden noch frisch“, erklärt einer von ihnen. „Wir können sehen, wo die Terroristen ihre Hände damit eingeschmiert haben, um ihre Handabdrücke an den Wänden zu hinterlassen. Aber wenn man bei der Miliz, Polizei oder Feuerwehr niemanden kennt, bekommt man die Opfer selbst nicht zu sehen.“
Seit dem Massaker in Sidi Rais am 29. August ist die Berichterstattung noch schwieriger geworden. Zwar gibt es kein offizielles Fotografieverbot, aber ein Bild zu bekommen ist reine Glückssache – es hängt davon ab, wann man den Schauplatz erreicht und in welcher Laune die Polizisten sind. Deshalb sucht Hocine zunehmend nach Bildern, die „mehr Emotion als Nachricht“ transportieren. Die findet man weniger am tatsächlichen Schauplatz der Massaker als „in den Gesichtern der Überlebenden“. Hocines berühmt gewordenes Bild ist daher auch nicht im Dorf selbst aufgenommen worden – wie vielerorts fälschlicherweise angegeben –, sondern im Al-Harrach-Krankenhaus am Stadtrand von Algier; dort hatten sich etwa 100 Menschen, überwiegend Mütter, versammelt. Sie durften das Krankenhaus nicht betreten, sondern durchforsteten eine Liste mit Namen von Überlebenden vor dem Eingang. Nachdem sie gesehen hatte, daß es keine Hoffnung darauf gab, daß auch nur eines ihrer acht Kinder lebt, brach die Frau fast ohnmächtig zusammen. Hocine beugte sich über sie und fotografierte, während die Polizei gerade anderweitig beschäftigt war. Den Film packte er sofort zu anderen in seine Tasche. Tatsächlich nahm ihm einen Moment später die Polizei den neu eingelegten Film ab – den, auf den es ankam, hatte er jedoch gerettet.
Hocine ist einer von ungefähr 20 Pressefotografen, die für die algerischen Tageszeitungen arbeiten. Die meisten Älteren haben längst aufgegeben, die Risiken sind einfach zu groß. Wegen Problemen mit Visaerteilung und Versicherungen sind auch wenige ausländische Fotografen präsent. So bleibt die Aufgabe, eine Gesellschaft im Krieg ins Bild zu bringen, einer Generation junger algerischer Fotografen überlassen. Sie haben weder Erfahrung noch eine Ausbildung, sondern lediglich eine „brennende Leidenschaft, neue Wege zu beschreiten“.
Wenn uns die Polizei als „Feinde Algeriens“ bezeichnet, als „Bastarde beschimpft, die ein falsches Bild von unserem Land zeichnen“, muß man sich eine dicke Haut zulegen. „Du mußt dich auf dem Weg zur Arbeit regelrecht auspolstern, um deine Ausrüstung vor neugierigen Augen zu verstecken“, sagt ein Redakteur. Einer anderer Fotograf erzählt: „Ich habe seit fünf Jahren nicht mehr im eigenen Bett geschlafen. Natürlich habe ich Angst. Aber ich habe mir diese Arbeit ausgesucht, um zu verstehen, was hier geschieht.“ Sie sind die „Einzelgänger“, die oft anonym arbeiten und ihre Bilder längst nicht mehr namentlich zeichnen.
Einigen Redakteuren und Fotografen ist der veränderte Stellenwert der Fotografie bewußt. „Wenn die Sprache ihre Kraft verloren hat, den Horror dieser unsäglichen Verbrechen auszudrücken, übernehmen Fotografien diese Funktion und füllen die Titelseiten“, sagt ein Journalist von Al Watan. Bilder vom alltäglichen Leben scheinen verschwunden zu sein. Hocine meint dazu: „Wir können nur noch die schockierendsten Nachrichten abdecken.“ Und selbst das ist eine Gratwanderung.
Tatsächlich kommen nur wenige Bilder aus Algerien. Deshalb haben drei Fotografen kürzlich die Agentur News Press gegründet, die ihre Fotos weltweit über Sipa in Paris vertreibt. Ihr Manager Ouaheb hat viel Erfahrung. „Algerien selbst ist in Todesgefahr“, sagt er, „ihr könnt meinen Namen also ruhig nennen. Ich werde das hier bis zu meinem Tod machen. Während wir warten, trinken wir täglich unsere Flasche Scotch. Wir lachen viel. Wir leben.“ Er meint, daß man immer noch ohne allzu große Beschränkungen arbeiten kann, und plant, in den nächsten Monaten in jeder größeren Stadt Algeriens einen Korrespondenten einzusetzen, insgesamt etwa 40.
Über die Bedeutung der Fotografie in Algerien hat er keine Zweifel. „Man muß die Leute schockieren, wenn man will, daß sie etwas tun. Meine Fotos sind hart“ – wie das von dem kleinen Mädchen mit durchschnittener Kehle. „Leute, die an diese Massaker nicht glauben wollen, ändern ihre Meinung schnell, wenn sie solche Bilder sehen. Viele algerische Zeitungen, die früher kaum Fotos brachten, haben ihre Haltung inzwischen revidiert.“
Jeder weiß, daß es Fotografien aus Algerien gibt, die zu grauenvoll sind, um sie zu veröffentlichen: etwa das Foto von den Köpfen zweier kleiner Jungen in einem Sack. Das französische Magazin Marianne druckte es am 8. September mit der Bildunterschrift: „Fotos aus Algerien. Wollen Sie sie sehen? Alle? Oder hätten Sie lieber Diana?“
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