piwik no script img

Happy Holocausts

138mal wurde Los Angeles in Film und Buch vernichtet. Und während die Stadt auf das große Erdbeben wartet, träumen Urbanisten von einer „Ökologie der Angst“  ■ Von Thomas Groß

Es geschah zur Mitte unseres Jahrhunderts, daß der Teufel umzog. Seit es moderne Städte gibt, war er in Paris gesehen worden, gelegentlich in London, Berlin und Wien. Auch beliebte es ihm, New York heimzusuchen, in dessen Straßenschluchten und Menschenmassen er untertauchte. Jetzt aber zog es ihn ins sonnige Kalifornien, wo ein neuer Moloch von Stadt sich in die Landschaft fraß. Und Gott, statt sich schützend vor Los Angeles zu stellen, ließ die Stadt der Engel zur Hölle fahren.

138 Vollzerstörungen hat Mike Davis gezählt, mit signifikantem Anstieg seit den fünfziger Jahren. L.A. wurde verseucht, ge- H-bombt, zerdeppert, von Meteoriten heimgesucht oder sonstwie verheert. Die Russen kamen. Ein Killerrasen aß Hollywood auf. Aliens nahmen die Vorstädte. Seltsame Anfälle von Nudismus zermürbten die Moral der letzten Getreuen, bis auch sie zu Wüstenstaub wurde. Und das sind nur die phantasierten Desaster, die aus Film und Buch.

In Los Angeles aber hält selbst die Natur Spezialeffekte bereit. Davis toppt die zehn Plagen des Alten Testaments (blutige Wasser des Nils, Heuschreckenschwärme etc.), jahrtausendelang führend in den Katastrophencharts, mit Feuersbrünsten, Wirbelstürmen, menschenfressenden Pumas, mit pestübertragenden Eichhörnchen, Killerbienen und Schlangen, die aus dem Wasser kamen. Vor allem aber wartet L.A. auf ein wenig Rock'n'Roll aus der Sankt-Andreas-Spalte. Ein Irrtum der Geschichte nämlich – oder war es blanke Hybris? – ließ den Menschen das neue Babel ausgerechnet dort errichten, wo unterirdisch zwei Kontinentalplatten sich aneinanderreiben. Ein seismisches Gähnen, und wahr wird, was hysterische Frauen in Hollywoods B-Filmen mit weit aufgerissenen Mündern zu stammeln pflegten: „Oh, my god! Los Angeles has vanished!“

Mike Davis, der all dies zusammengetragen hat, ist Dozent für „Urban Theory“ am Southern California Institute of Architecture, das Gegenteil von einem Science- fiction-Autor also – aber doch ein Mann der Popkultur. Bereits „City of Quartz“ (1990), mittlerweile ein Klassiker der Stadtsoziologie, faßte L.A. als mediatisierte Stadt, als Trash- und Pulp-fiction-Agglomerat, das durch den Schleier seiner eigenen Fiktionen hindurch betrachtet werden muß. In seinem jüngsten, der „Imagination of Desaster“ gewidmeten Buch dealt der 1946 in Fontana, Südkalifornien, geborene Davis mit der – an der Westküste zwangsläufig populären – Erwartung eines großen, apokalyptischen Bebens. „Mike Davis has produced another blockbuster“, jubelt Kevin (nicht Kenneth) Starr, selbst Kalifornienkenner und Chef des staatlichen Bibliothekswesens. Des Forschers Genie liege im Aufspüren der „Verbindung zwischen sozialer Ungerechtigkeit und ökologischem Notstand“, schreibt Susan Faludi, Autorin von „Backlash“. Was der Sache schon näher kommt. Davis hat nicht einfach einen Bestseller geschrieben, der die Angstlust der Zeitgenossen bedient, sein akribisch recherchiertes Werk versteht sich als Versuch einer Ökologie der Angst.

„Ecology of Fear“, so der Originaltitel, ist ein Stück negative Heimatkunde. Davis steigt tief hinab in den Bauch der Stadt, wühlt in Archiven, erstellt Statistiken. Als Ex-Schlachthofgeselle, Ex-Fernfahrer, als linker Autodidakt und soziologischer Außenseiter ist er ein später Nachfolger des Chandlerschen Schnüfflers, ein Philip Marlowe des Urbanismus, der in eigener Sache ermittelt. Die zu Tage geförderte Beweislast ist erdrückend. Los Angeles ist eine Stadt, deren Oberfläche zu über einem Drittel dem Auto gehört, die keine öffentlichen Plätze und Parks kennt, weil die Gier der Developer buchstäblich grenzenlos war.

Überhaupt verschwindet Öffentlichkeit, weil, wer es sich leisten kann, den Rückzug in bewachte Quartiere antritt und auch Geschäftsviertel wie Bunker Hill ihrem Namen zunehmend gerecht werden. Reichtum wird Festung. Vis-à-vis des berühmten Hollywood-Zeichens, in der Ebene zum Meer, liegt dann die Hölle der Vorstadt, riesige preisgegebene Flächen, die sich höchstens noch als Filmkulissen ausbeuten lassen.

Die Natur beißt zurück

Wo Davis die Stadt der Engel als verlorenes Paradies beschreibt, ist er natürlich auch der Prophet, der Gomorrha den Fall voraussagt – und bleibt doch immer Dialektiker. Am deutlichsten, wenn er an die Ränder geht, dorthin, wo die Delinquenten des kalifornischen Traums in Hochsicherheitsgefängnissen schmoren und hyperkultivierter Suburbanismus abrupt in Wildnis übergeht. Die Berglöwen, die in den Canyons um die Stadt plötzlich Menschen anzufallen beginnen, sind Davis nicht einfach eine Laune der Natur, auch nicht religiöses Vorzeichen, sondern dialektisches Bild: In der Andersheit des Tiers kleidet sich urbane Verwirrung und Entfremdung ein – der freilich tiefgreifende Störungen der letzten Biotope vorausgegangen sind. Ein Hauch von Pferdeflüsterertum liegt hier über den Szenen. Ökologie der Angst, das heißt für Davis auch, daß die Natur irgendwann zurückbeißt.

Weil diese Zuspitzung sich nirgends so rein studieren läßt wie in Los Angeles, erscheint die Stadt nicht einfach als gigantisches Fehlprodukt uramerikanischen Raubbaus, sondern als Probe aufs Exempel. Wenn Paris die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin) war, ist L.A. der Kristall, in dem sich der globalisierte Urbanismus der Jahrtausendwende bricht. Viel Erfreuliches liest Davis darin nicht. Die Stadt der Zukunft ähnelt dem foucaultschen Gefängnis, in dem die eine Hälfte sich mit allen Mitteln der Sicherheitstechnik vor der anderen schützt, die in gulagähnlichen Suburbs vor sich hin desintegriert.

Neu an dieser Lesart ist aber nicht die katastrophische Verfaßtheit der Metropole, neu ist die Emphase, mit der eine Gesellschaft ihren eigenen Untergang herbeiträumt. Als Lissabon 1755 von einem Erdbeben zerstört wurde, war das eine Erschütterung, mit der die Literatur der Aufklärung schwer zu kämpfen hatte. Auch der große Brand von London wurde stets als Horrorgemälde dargestellt, eine Metapher für den Untergang der Zivilisation. Die Vernichtung L.A.s dagegen, schreibt Davis, „ist oft als Sieg für die Zivilisation dargestellt oder zumindest insgeheim erfahren worden“. Niemand scheint eine Rechtfertigung mehr dafür zu brauchen, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Daher die vielen Horrorszenarien in Literatur und Kino spätestens seit Ridley Scotts „Blade Runner“. In Roland Emmerichs „Independence Day“ strecken sich auf Hochhäusern tanzende Lemuren-Angelinos ihrer Vernichtung durch Aliens sogar regelrecht entgegen.

Mike Davis nennt diese Partyvariante der Auslöschung „Happy Holocausts“. Der Begriff ist amerikanisch unbekümmert, aber nicht leichtfertig gewählt. Im Bodensatz der gesammelten Katastrophenängste in und um L.A. liest Davis die rassistische Phantasie vom Anderen, das das Eigene bedroht. Mal ist es schwarz, mal gelb oder rot, es kommt aus dem Weltall oder dem Paralleluniversum der eigenen Neighborhood. In jedem Fall aber will es ohne Federlesen in die Hölle zurückgeschickt werden, aus der es emporkroch. Hier verweigert die Aufklärung, schon aus Sorge um die Folgekosten, den Blick auf ihre eigene Nachtseite – und kann genau deswegen doch nur immer wieder das Ende des amerikanischen Imperiums halluzinieren. Die Dimension, die die urbane der gemeinen Ökologie voraushat, ist Angst.

Warum O.J. Simpson durchdrehte

Der Leser bekommt das zu spüren. „Ecology of Fear“ ist ein soziologischer Thriller, den man an der Architektur seiner eigenen Stadt weiterträumen möchte. Nennen wir es „Reality fiction“: Die Theorie entzieht der erzählenden Literatur ein Stück Sinnlichkeit für ihre eigenen Zwecke.

Rückstrahleffekte auf das Erzählen sind dabei nicht ausgeschlossen. Douglas Coupland etwa, der Autor von „Generation X“, versucht sich in seinen (gerade auf deutsch erschienenen) „American Polaroids“ an einer Lektüre des L.A.-Stadtteils Brentwood. Deutlich von Davis beeinflußt, entziffert er die „Party-Seifenopernökologie“ dieser Gegend der Schauspieler und bodygebuildeten Komparsen als Labor der Geschichtslosigkeit.

Brentwood, der stillere Nachbar von Beverly Hills und Bel Air, ist eine Neighborhood, in der es aus Angst vor Pennern keine Bürgersteige mehr gibt, die trotzig amerikanisch-arkadische Lebensqualität darstellen soll, und doch oder deswegen ein Ort der Panik ist. Es handelt sich um eine ganz neuartige Panik, die Coupland mehr aus Indizien konstelliert als eigentlich beschreibt, eine Panik jenseits von Ideologie, Geschichte, Familie. Die Stimmung von Brentwood ist noir, ein post-chandlerscher Gemütszustand, in dem die Lebenden nach dem Friedhof schielen, weil sie die letzten unbebauten Grundstücke sind.

Eher nebenbei landen sie dann selber dort. Nicole Brown Simpson, weil O.J. irgendwann durchdrehte, Marilyn Monroe, weil... ja warum? Weil Brentwood „ein sozialer und psychischer Teilchenbeschleuniger ist“, spekuliert Coupland. In einer sozialen Sphäre, die nur noch von Ruhm, Paranoia und dem Zusammenprall kalifornisch gesunder Körper handelt, taugt plötzlich auch all das nicht mehr zum Narrativ, das das eigene Leben zusammenhalten könnte. Mit irgendwas muß man dann Schluß machen. Was bleibt, sind Hausbesitzer, denen die Katastrophentouristen vor dem Simpsonschen Anwesen ein Dorn im Auge sind, weil sie die Grundstückspreise senken (vor zwei Monaten wurde das Gebäude übrigens abgerissen).

Bei Coupland implodiert das Soziale in unergründlichen Verbrechen und lautlosen Privatkatastrophen, beim Dialektiker Davis hat die Momentaufnahme noch eine gewisse Resthitze. Um 3.47 Uhr im Jahr 1992 überflog ein Satellit Los Angeles und beobachtete dabei „eine ungewöhnlich große thermische Anomalie, verteilt über eine Fläche von mehr als 85 Quadratkilometern“. Es war der Rodney-King-Aufstand. Vom Weltall aus betrachtet, hatte er die geologische Schönheit eines Vulkanausbruchs.

Mike Davis: „Ecology Of Fear. Los Angeles And The Imagination Of Desaster“. Metropolitan Books 1998, 484 Seiten, 19,25 Dollar.

Douglas Coupland: „American Polaroids“. Hoffmann & Campe, 1998, 224 Seiten, 44,90 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen