: Zu-viel-Platz-Angst
■ Agoraphobie – die Angst vor unbegrenzten Räumen. Ein neuer Verein bietet Menschen mit neurotischen Angstproblemen Hilfe
Als es am schlimmsten war, konnte John Mandel sich keine zwei Treppenstufen weit von seiner Wohnungstür entfernen. Heute ist es nicht mehr schlimm. Aber eine Autofahrt über die Hochstraße beim Bahnhof wäre immer noch ein Problem. John Mandel hat eine Angst. „Agoraphobie“ nennt man seine Angst vor zu viel Platz. Am vergangenen Freitag gründete Mandel zusammen mit anderen Angst-Betroffenen, Medizinern und Therapeuten den Agoraphobie Bremen e.V., der unter anderem helfen soll, dass andere Leute mit „neurotischen Angstproblemen“ eine weniger lange und weniger harte Krankengeschichte erleben als Mandel selbst.
Jeder siebte Deutsche wird regelmäßig von Ängsten befallen, die sein Leben oft so beeinträchtigen, dass er ärztliche und therapeutische Hilfe braucht. Leider weiß er das meist nicht, irrt lange vergeblich durch die Praxen von Ärzten, die unspezifische vegetative Störungen feststellen und untaugliche Arzneien verschreiben. Vielleicht ist es gerade die heimliche Angst, verrückt zu werden, die solche Menschen als letztes darauf kommen lässt, einen Nervenarzt aufzusuchen. Mandel musste erst völlig isoliert in seinen vier Wänden ho-cken, unfähig, zur Arbeit zu fahren, bis er sich entschloss, sich im Krankenhaus Bremen-Ost stationär behandeln zu lassen. Nach einem halben Jahr wusste er, warum er Angst hatte, was die Angst nicht kleiner machte. Später machte er eine Verhaltenstherapie, die ihm weiterhalf.
1986 gründete Mandel in Bremen eine erste Selbsthilfegruppe für ähnlich Betroffene. Seit zehn Jahren organisieren er und seine Mitarbeiter „Angstberatung“. Das Angebot u.a. telefonisch zu beraten ist „niederschwellig“ – Mandel führt sich regelmäßig ein mit „Ich bin ein Betroffener“. Heute gibt es in Bremen sieben solcher Gruppen mit jeweils etwa neun Mitgliedern, die mit dem Agoraphobie Bremen e.V. ein organisatorisches Dach bekommen.
Vielleicht geht es mit einem falschen Rhythmus des Herzschlags los, mit plötzlichem Schwitzen, Atemnot, Panikgefühlen. Vielleicht überfällt einen die Angst im Fahrstuhl oder sobald man seine Firma betritt, in der Straßenbahn oder in Menschenansammlungen ab drei Personen. Oder eben, wie bei John Mandel, auf dem großen, weiten „Markt“ (griechisch: Agora). Schlimmstenfalls kippt man um, der Notarzt bringt einen ins Krankenhaus.
Die meisten Menschen kennen solche Ängste. Im Gotthardtunnel, bei Kilometer 8,5. Im Flugzeug. Im Aufzug. Sie kommen und gehen, zum Glück, meist wieder. Hilfe muss her, wenn die Ängste dazu führen, dass sich das Leben ändert. Wenn man Vermeidungsstrategien entwickelt, wenn sich die Angst ausdehnt von einem Platz auf alle, von einem Gebäude auf alle anderen.
In den Agoraphobie-Gruppen treffen sich (gegen derzeit 30 Mark im Monat) Angstpatienten mit Therapeuten und Ärtzen, manche stellen erstaunt fest, dass ihre Probleme viele andere betreffen, dass man nicht verrückt ist. Und dass man auch außerhalb der notwendigen Therapie etwas tun kann – Entspannungsübungen werden angeboten oder Selbsterfahrungen.
Der neue Agoraphobie Bremen e.V. will die Gruppenangebote besser organisieren und sich um eine gewisse finanzielle Grundlage kümmern. Man erhofft sich aus der erprobten Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt auch materielle Vorteile und setzt daneben auf Sponsoren. Für John Mandel selbst ist die Hilfe für andere Betroffene Teil seines neuen Lebens geworden. Der 47-jährige, seit 1988 berufsunfähig und Rentner, hat sein „Schneckenhaus“, wie er sagt, längst wieder verlassen. Man kann ihn anrufen unter Tel.: 0421/70 21 88 (John) oder 0421/61 48 93 (Angelika). BuS
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