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Der Pferdezopfkopf    ■ Von Jürgen Roth

Links stuhlt, wir hocken im Straßengarten des Kneipinstituts Zeitungsente, Frankfurt/Main, Gallusviertel, eine Partie der wenige hundert Meter weiter werkelnden FAZ-Mannschaft, vis-à-vis sitzen zwei Kerle. Einer der Schweiger, einer der Erzähler. Der Erzähler spricht. Thema ist: Neulich im Knastraum oder: Ein Septembersommernachtsalptraum. Der Pferdezopfkopf war Bautzenhäftling gewesen. Behauptete er. Sein Gegenüber nickte ab. Ich startete meinen Lauschangriff.

„Bis zur Querschnittslähmung war alles drin“, erläuterte der Gepferdezopfkopfte die K.o.-Techniken der Anstaltsleitung, „die wussten schon, was abging.“ Was ging ab, hier und heute? Wohin driftete das Gewissen des gewesenen Gefängnisses? „Du musstest ja“, schmierte er nun kurz weg in seine mutmaßlich westdeutsche und gerade schwer notorische Berufsaktualität, „du musstest ja jedes Microsoft-Exel und die Zeile dazu voll operationalisieren. Da musstest du up to date sein, aber fix. Es ist doch so“, er sog sorgfältig am Pils, „wir arbeiten natürlich 'ne Struktur aus.“

Eine Struktur? Eine Analysestruktur der strukturellen Gewalt der Inhaftierung und Knechtung strukturell unliebsamer Strukturelemente der realsozialistischen Gesellschaftsstruktur?, sann ich. Der Zopfkopf bekam aber scharf die Kurve, zurück zum bierbeseelten Bautzen – und bömmerte erneut: „Bautzen war ja nun mal, wollnmasagn, 'ne ziemlich harte Nummer für sich. Systemleute wurden da hinhaftiert, also im technischen Sinne weggeräumt und verbeult.“ Ob ich mich verhört hatte? Nein, „verbeult“ seien die „Systemleute und Kumpel“ worden, so weit, dass „die Kumpel“ selber „die Überwachenundstrafenprozedur exekutierten, komplett internalisierten“, schäumte der Pferdezopfkopf. „Der Kumpel“, ergänzte er, wie um mich, der nebenan luchste, zu kompliziieren, „der hat das Fahrzeug so bespitzt, da bin ich nach 'ner dreiviertel Minute aus der Halle rausmarschiert. Der war knallhart.“ Wer? Der? Er? Der wahrheitswillige Wallach des neuen Wilden Westens? Das Pferd nahm Tempo auf, gallopus furiosus. „Die ham schwarz gebrannt da drin, da drin, echt“, schrie der Altbundesländerbeglücker. „Moine Dodenbangg hat moomendoan zierga dreizehn Dadein.“ Ich nahm einen Zug Schöfferhofer und schöpfte Hoffnung, das Scheißereden ende irgendwann. Doch die Zeitungsente schließt erst um zwei. „Ja ja, okay, und dann?“, warf des Langhaupthaarlaffels konsternierter Kontrahent ein, worauf The Horse sabberte: „Jo jo, wir hadden döön Spezi, der hieß Usual Rapid Alleskleber. Der hat Rasierwasser besorgt. Polnisches Rasierwasser, 95 Prozent reiner Alköhöl, und der hat's gebracht, mir wöörn völl voll.“ Der im Schwundsinn versinkende Biermann fiel zurück. Mr. Lamabrillo schnaufte. Ich schluckte – Schöfferhofer. „Die letzte Woche war eine brudoole Angstwoche“, erklärte der Datenverarbeitungstechniker und killte den Abend extremsächsisch: „'n gloinen Momend, ich goan jetzt nich mehr gloar nachdenggn, mich drüggt's grad.“ Es geschah in Frankfurt am Main, fern Frankfurts an der Oder. Gebt uns die DDR zurück! Sie schuf „Narrateure“ (Gerhard Polt) von Rang. Alle schnööppsnaslang. Mit Schwanz hinten dran.

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