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Preußisches Pompeji

1945 wurde die preußische Festung Küstrin nach schweren Kämpfen von der Roten Armee eingenommen. Die Ruinen der Altstadt liegen seither unter Bäumen und Sträuchern begraben. Aus dem deutschen Küstrin wurde das polnische Kostrzyn. Nun soll die zerstörte Festung wieder aufgebaut werden. Kritik daran gibt es nur von deutscher Seite. Sind die Polen die besseren Preußen?

von UWE RADA

Auch für Bundesgrenzschützer gibt es ein Leben jenseits der Grenze. Zumindest an diesem Samstag im Dezember. „Fortbildung“ heißt die Losung des Tages. Auf dem Programm: eine Art politischer Wandertag auf polnischem Territorium. Etwa zwanzig Grenzer, darunter drei Frauen, haben sich früh um acht im Frühstücksraum des Übergangs Küstrin-Kietz/Kostrzyn versammelt. Ein Paket mitgebrachter Stullen bleibt unbeachtet auf dem Tisch liegen. Wichtiger sind Kaffee und eine Zigarette. Und festes Schuhwerk. Doch das hat Karl-Heinz Henschel, ein pensionierter Lehrer, nicht erst sagen müssen. Das wissen die Jungs und die drei Frauen vom Bundesgrenzschutz von allein. Schließlich führt die Wanderung mitten auf die Ruinen einer untergegangenen Stadt. In ein preußisches Pompeji.

Henschel ist der Wanderführer an diesem Tag, ein Wanderführer in die Geschichte von Küstrin, das heute Kostrzyn heißt. Weit hat es die Gruppe nicht, schon zweihundert Meter hinter dem Grenzübergang ist das Ziel erreicht, die preußische Festung Küstrin oder das, was von ihr übrig geblieben ist. Würde die Festung samt Altstadt noch stehen, würde Henschel hier jedes Haus kennen. So aber muss der 74-jährige gebürtige Küstriner alte Fotos zeigen, zum Beispiel von der Bäckerei Tränkler, wo er als Kind „’ne Schnecke für ’nen Sechser bekam“.

Die Kietzer Straße ist inzwischen frei geräumt. Einst eine Ausfallstraße, die die Altstadt von Küstrin mit den Ausflugslokalen im dörflichen Kietz verband, gleicht die Straße heute einem gepflasterten Feldweg durch eine Trümmerlandschaft. Von den zweistöckigen Bürgerhäusern mit ihren schräg abfallenden Dächern, die der Kietzer Straße einst ihren unverwechselbaren Charakter gaben, sind nur die Grundmauern geblieben, hier die Reste eines Kellerfensters, dort eine Treppe, begraben unter der Spontanvegetation, wie sie sich auf verlassenem Gelände bildet: Gestrüpp, wuchernde, rankende Pflanzen, einige Birken. Was die Nazis und die Rote Armee zurückgelassen haben, hat sich die Natur geholt.

Karl-Heinz Henschel führt die Grenzschützer zum Kietzer Tor. Von Ausflugslokalen, sagt er, war 1945 keine Rede mehr. Ähnlich wie Kolberg oder Breslau gehörte Küstrin zu jenen Festungen, die auf Befehl Hitlers bis zum letzten Mann verteidigt werden mussten. Zwei Monate lang dauerten die erbitterten Kämpfe um das von den Zivilisten längst verlassene Küstrin. Zwei Monate, in denen fünftausend Wehrmachtssoldaten, neuntausend Volkssturmleute und sechstausend Rotarmisten ihr Leben ließen.

Henschel schildert, wie die Rote Armee in den letzten Märztagen 1945 zum ersten Mal durchs Kietzer Tor brach, wenige Meter dahinter zurückgeschlagen wurde, am nächsten Tag wieder einrückte. „Diesmal kamen die Rotarmisten bis zum Marktplatz“, sagt Henschel. Zwei Tage später hatten sie es geschafft. Über den Ruinen der Altstadt wurde die rote Fahne gehisst. Von den tausend Deutschen, die versuchten, den sowjetischen Belagerungsring zu durchbrechen und sich über Kietz in Richtung Berlin durchzuschlagen, wurden sechshundert erschossen.

Ungerührt nennt Henschel den Namen des Kommandanten: „Heinz Reinefarth, Generalleutnant der Waffen-SS.“ Der hatte 1944 den Warschauer Aufstand niedergeschlagen und wurde von Hitler nach Küstrin beordert. Reinefarth, der in Polen noch immer als „Henker von Warschau“ gilt, erzählt Henschel, „machte in der Bundesrepublik Karriere, als Bürgermeister von Westerland auf Sylt und als Abgeordneter im schleswig-holsteinischen Landtag.“ Die Grenzschützer schweigen, einige schauen betreten zu Boden.

Damals, Ende März 1945, hatte Küstrin aufgehört zu existieren. Von ehemals 8.278 Gebäuden haben nur fünf den Krieg überstanden, fünfzig weitere hätten, wenn man es gewollt hätte, wieder aufgebaut werden können. Doch die Altstadt blieb ein Ruinenfeld, über die Geschichte wuchs Gras. Das polnische Kostrzyn wurde einige Kilometer weiter nördlich aufgebaut, auf dem Gelände der ebenfalls zerstörten Neustadt. Kostrzyn, das ist die Heimat von Grzegorz Tomczak. Seinen Sitz hat der 37-jährige Bürgermeister von Kostrzyn in der ulica Kopernika, einer jener neuen Verkehrsachsen, um die in den Fünfzigerjahren eine sozialistische Stadt gebaut wurde: ein paar Blocks, eine Zellulosefabrik, ein Bahnknoten, das war alles. Für den Politiker der Wahlaktion Solidarność ist das längst zu wenig. „Wenn die Altstadt heute so aussehen würde wie vor dem Krieg, wäre Küstrin eine Perle der Baukunst.“ Doch was nicht mehr ist, kann ja wieder werden. Tomczak jedenfalls hat eine Vision: „Jetzt bauen die Polen die preußische Festung wieder auf.“

Zwei Zimmer weiter ist seine Vision bereits Wirklichkeit. Auf den Bildschirmen im Büro für Stadtmarketing kann man sich auf einen virtuellen Spaziergang durch die wieder aufgebaute Altstadt begeben, kann zwei Minuten und siebzehn Sekunden lang vom Marktplatz durchs Apothekergässchen schlendern, die bunten Altstadthäuschen und das rekonstruierte Schloss besichtigen, vor dem am 6. November 1730 Hans Hermann von Katte hingerichtet wurde. Friedrich, der spätere „Große“, damals aber noch in Küstriner Festungshaft, musste der Enthauptung seines Jugendfreundes beiwohnen. Theodor Fontane hat sich dieser „preußischen Tragödie“, ausgelöst durch Kattes und Friedrichs geplante Flucht vor dem preußischen Drill und beendet durch das Urteil des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ ausführlich gewidmet. Er kam zu dem Schluss, dass seitdem „etwas Finster-Unheimliches“ um den Ort sei.

Davon freilich will Kostrzyns Bürgermeister nichts wissen. Dass mit den mittlerweile auf Stadtplänen, Ansichtskarten und Werbeprospekten verbreiteten Plänen zum Wiederaufbau Küstrins auch ein Symbol der militaristischen Tradition Preußens wieder entsteht, glaubt er nicht: „Wir betrachten die Festung als Ursprung der Geschichte Küstrins, als Teil des europäischen Kulturerbes.“ Eine Diskussion wie um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses habe es in Kostrzyn nie gegeben. „Warum auch?“, meint Tomczak. „Das ist doch Geschichte.“

Und die wird an der Oder wieder groß geschrieben, auf beiden Seiten der Grenze. In Szczecin zum Beispiel arbeiten Historiker und Kunstgeschichtler mit ihren deutschen Kollegen an einer gemeisamen Historiografie Pommerns. Es ist nicht nur die deutsche Vergangenheit, die sie damit im Sinn haben, sondern auch ihre eigene, berichtet der Stettiner Journalist Bogdan Twardochleb. Twardochleb weiß, wie wichtig es für die Nachfahren der aus den polnischen Ostgebieten Vertriebenen ist, sich auf das kulturelle Erbe der Vergangenheit zu berufen und damit eine lokale Identität zu entwickeln.

Dass diese auch preußisch sein kann, zeigt sich in Küstrin. Jozef Piątkowski zum Beispiel ist längst davon überzeugt, dass die Geschichte Deutsche und Polen nicht nur getrennt hat, sondern auch wieder zusammenführt. Seit über zwanzig Jahren lebt Piątkowski nun in Kostrzyn und unterrichtet am dortigen Gymnasium Geschichte. In seiner Freizeit führt er, wie Karl-Heinz Henschel, Touristengruppen über das Ruinenfeld. „Das ist die Geschichte des Ortes, in dem wir leben. Die Häuser haben sich nichts zuschulden kommen lassen“, sagt er. Ähnlich wie Henschel, der Lehrer aus Deutschland, berichtet Piątkowski, der Lehrer aus Polen, über das Alltagsleben in der preußischen Garnisonstadt Küstrin, den Bau des Schlosses vor siebenhundert Jahren und über Katharina Brunswick, die sich um die Armen in der Stadt sorgte.

„Die Geschichte, die deutsche wie die polnische, spielt in Polen eine andere Rolle als in Deutschland“, erklärt Kazimierz Wóycicki, der in Szczecin das Institut für Deutschland und Nordeuropastudien leitet, das Verhältnis der Kostrzyner zum Wiederaufbau einer preußischen Festung. Das gelte auch für die Bewertung des Militärs: „Während man in Deutschland eher kritisch über das Militär denkt, ist es in Polen eher angesehen.“ Wie zum Beweis stehen im Büro von Bürgermeister Tomczak die Standarten ehemals preußischer Festungen. An der Wand hängt eine Urkunde, die an die „Festungstage“ in Küstrin im September dieses Jahres erinnert. Mit dabei waren nicht nur deutsche Festungen wie Peitz, sondern auch das russische Bałtyjsk und das polnische Świnoujście. Wóycicki sagt: „Die Deutschen müssen sich überlegen, ob ihre Kritik daran nicht ihr eigenes Problem ist, das sie mit sich selbst abmachen müssen.“

Für die Grenzschützer neigt sich der Wandertag dem Ende zu. Oben, auf den Befestigungen der „Bastion Brandenburg“, ist der Blick auf die Oder, deren Ufer hier mit Buhnen befestigt ist, besonders schön. Auf der anderen Seite des Flusses, der die „Festung Europa“ noch von denen trennt, die ihr in naher Zukunft beitreten wollen, liegt die Oderinsel. Bis 1990 noch war hier, auf dem Territorium der DDR, die Rote Armee stationiert. Heute erinnern nur noch ein Obelisk mit einem roten Stern und ein Soldatenfriedhof an die Kämpfe des Jahres 1945 und an eine Befreiung, bei der es nichts mehr zu befreien gab. Ein Foto von diesem Denkmal ist in den Veröffentlichungen über Küstrin mit all den bunten Bildern des Wiederaufbaus nicht zu sehen. Bei der gemeinsamen Suche nach Geschichte gibt es bei Polen und Deutschen keinen Platz mehr für die Russen.

Karl-Heinz Henschel dreht sich um, zeigt auf vier Häuser im Rohbau, drüben, auf der anderen Seite des preußischen Pompeji, dort, wo die Altstadt aufhört und Kostrzyn, die Grenzstadt, beginnt. Ein riesiger Grenzbasar findet sich dort, samt Tankstelle und einer McDonald’s-Filiale, die sich hier einen Turm hat bauen lassen, der es mit den Kirchen von Kostrzyn aufnimmt.

„Hier hat der Aufbau von Küstrin begonnen“, sagt Henschel. Es klingt wie eine Begräbnisrede. In der Tat stehen die vier Gebäude, die den Startschuss für das neue, alte Küstrin geben sollen, seit drei Jahren leer. Auf einer abgezäunten Rasenfläche hat der Investor, die Wohnungsbaugesellschaft Podzamcze, eine Bautafel aufstellen lassen. Doch nicht einmal die Telefonnummern stimmen mehr. So stehen nun neben den Ruinen des preußischen Pompeji die Investitionsruinen der Marktwirtschaft. Die Deutschen, die sich hier einmal einkaufen sollten, wollen nicht, und die Polen können nicht.

Der Bürgermeister spricht über den misslungenen Start von Podzamcze nicht gerne, auch nicht darüber, dass bei der Gesellschaft, die auch den Wiederaufbau der Altstadt von Szczecin managt, ehemalige Mitarbeiter der Stadtverwaltung arbeiten. Inzwischen arbeitet Tomczak an einem Bebauungsplan, der sowohl eine Wiederbebauung der Festung als auch die Beibehaltung der Ruinenlandschaft ermöglicht. Auch historische Visionen, hat er erfahren müssen, unterliegen heutzutage einer Konjunktur: der der Marktwirtschaft.

Karl-Heinz Henschel kann das nur recht sein. „Die Polen sind mehr auf den Wiederaufbau erpicht als wir Deutschen“, sagt er am Ende seiner Führung. „Ich sag denen immer: Ihr habt so viele alte Fotos. Packt die auf ’ne Tafel, die alten Straßenschilder dazu, und macht ein riesiges Freilichtmuseum draus.“ Henschel weiß sich da einig mit dem Verein für die Geschichte Küstrins, der im Mai vergangenen Jahres einen „Küstriner Appell“ veröffentlichte: „Nachdem Stettin, Breslau und andere Städte Westpolens aus Trümmern neu entstanden sind, ist die zerstörte Küstriner Altstadt das einizige Flächenmahnmal, das an den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs erinnert.“

Die Beamten des Bundesgrenzschutzes schauen noch immer auf die Luftaufnahmen der Küstriner Altstadt, die ihnen Henschel am Anfang der Exkursion in die Hände gedrückt hat. Zweihundert Meter weiter wartet wieder der Alltag an der deutsch-polnischen Grenze auf sie.

UWE RADA, 37, ist taz-Redakteur für Stadtentwicklung und beschäftigt sich auch mit der deutsch-polnischen Grenzregion

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