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Von Tablaren und Traversen

Funktion vor Form: Ihren Regalen einen richtigen Produktnamen zu geben, halten einige Designer für Verrat an der gewollt sachlichen Gestaltung. Doch auch ganz nüchtern und schlicht konstruierte Regale können mehr als nur nützlich sein

von MICHAEL KASISKE

Zum Jahresbeginn kneift regelmäßig die Kleidung. Stets ist ein Vorsatz für das neue Jahr, die über die Feiertage angefressenen Pfunde wieder loszuwerden. Ähnlich mit ungebetenen Weihnachtsgeschenken zu verfahren, wäre hingegen Blasphemie. Wenigstens für die gut gemeinte Vase der Lieblingstante soll ein veritabler Platz gefunden werden. Ob die profane Frage nach ausbaufähigem wie repräsentativem Stauraum der Ansatz für Möbeldesigner bei dem Entwurf von Regalen war?

Bei dem System „606“ von Dieter Rams ist das schwer vorstellbar. Schon die tragenden E-Profile aus Aluminium, die entweder direkt auf die Wand geschraubt oder in ein frei stehendes, zwischen Boden und Decke eingespanntes X-Profil eingesetzt werden, wirken mit ihren Lochrastern so rational, als sollten sie ausschließlich verschriftetes Wissen halten. Das wird auch nicht durch die Tablare und Kästen gemildert, die wahlweise in Farben wie lichtgrau und mattschwarz oder mit Ahorn, Buche und Birnbaum furniert erhältlich sind: Die vertikale Ausrichtung der Profile und Seitenteile bestimmen das Erscheinungsbild entsprechend ihrer Funktion als Tragstruktur.

Schon die numerische Bezeichnung „606“ ist programmatisch. Rams, dem wohl bekanntesten Vertreter der Ulmer Schule für Gestaltung, wäre jeder Name ein Verrat an der gewollt sachlichen Gestaltung. Im Selbstverständnis der Bauhaus-Nachfolge war es in den 50ern Credo dieser Schule, allein der Funktion und dem Material verpflichtet zu sein, und von ihr maßgeblich beeinflusste Produktlinien – wie etwa die von Braun – erhielten lediglich umgangssprachlich so einprägsame Titel wie „Schneewittchensarg“ für eine Stereoanlage. Das neutrale Erscheinungsbild von „606“ kann dort, wo Gegenstände offen gelagert werden, allerdings erwünscht sein, schließlich soll das Regal den Objekten dienen.

Diesen Vortritt gewährt das System mit präziser Eleganz: auf das Notwendigste reduzierte Bauteile, die das stringente Raster in keinem Detail plump erscheinen lassen. Seit 1995 wird „606“ von Rams’ eigener Firma sdr+ produziert. Die Preise der Regalsysteme führen manchmal zu überraschenden Unterschätzungen, da sie sich aus Einzelteilen wie den erwähnten Tablaren, so die technische Bezeichnung für Einlege- und -hängeböden, und tragenden Elementen summieren, deren Einzelpreise zunächst nicht hoch erscheinen. Seit den 50ern sind erweiterbare Systeme für den Wohnbereich gängig; am bekanntesten aus dieser Zeit sind die seitlich an die Wand geschraubten, meist schwarzen Metallgitter in Form einer Leiter, in die Holzböden oder Kästen eingehängt wurden.

Der Designer Andreas Winkler entwarf nun unlängst mit „R 72“ ein ausschließlich frei stehendes System, das leicht montierbar ist und – flach zusammengelegt – nur wenig Stauraum braucht. Die Seitenteile werden mit Edelstahlstangen auf Abstand gehalten, zwischen denen massive Rückwände zur Aussteifung eingeschoben sind. Das Erscheinungsbild ist – je nachdem, ob die Seitenteile in MDF natur gehalten oder farbig beschichtet sind – warm oder kühl, jedoch immer mit einem Blickfang durch das in sechs kräftigen Farbtönen lieferbare Rückteil. Oder durch die in denselben Farben angebotenen Türen, die modular eingehängt werden können und das Regal in einen Schrank umfunktionieren. Die Massivität und die kinderleicht erfassbare konstruktive Ausführung machen „R 72“ zu einem sympathischen Exempel für ein einfaches Möbel.

Das Regalsystem „SEC“ ist hingegen schon durch seine vielen variablen Teile komplex. Die Traversen – das sind die Verbindungsstücke in Breite und Höhe – bestehen aus poliertem oder farblos eloxiertem Aluminium, alle weiteren Elemente sind in unterschiedlichen Materialien lieferbar. Das ebenfalls frei stehend konzipierte „SEC“, hergestellt von dem italienischen Produzenten Alias, verhält sich wie ein Chamäleon: Es kann sich sowohl als bloße Tragstruktur gegenüber den eingelagerten Gegenständen zurücknehmen, als auch, versehen mit Tablaren aus Glas oder Marmor und Rück- und Seitenwänden aus farbigem Acrylglas, zu einer Skulptur zusammengesetzt werden, die ganz sich selbst genügt.

„SEC“ wurde von dem bekannten Zürcher Designerduo Alfredo Häberli und Christophe Marchand entworfen, das kürzlich seine Zusammenarbeit beendete. Die beiden Mitte-30-Jährigen zeigen sich auch mit diesem Möbel als eine auf die Askese von Ulm referierende Generation, der jedoch ein unbedingter Gestaltungswille hinsichtlich Form und Funktion fremd ist. Die mit starken Profilen umschlossenen Regalfächer erinnern an gestapelte Kisten. Die mit Siebdrucken versehenen transparenten Rückwände – etwa von Blättern in Übergröße – verstärken diesen Eindruck und geben „SEC“ einen sinnlichen Charakter.

Die spielerisch gestalteten Rückwände haben den Vorteil, heterogene Gegenstände individuell präsentieren zu können. Nicht jede gute Stereo-Anlage ist etwa ein Blickfang, ein interessantes Motiv oder ein paar Farbflächen als Hintergrund erheben sie freilich zum besonderen Objekt. Auch die Weihnachtsvase der Tante kann in einem Fach stehen, das dann vielleicht den Titel „Divines Storage“ trägt.

sdr+ (www.sdr-plus.com) erhältlich u.a. bei modus, Wielandstraße 27-28, 10707 Berlin, minimum im Stilwerk, Kantstraße 17, 10523 Berlinphos (www.phos.de) erhältlich u.a. bei Brera, Mommsenstraße 71, 10629 Berlin & dopo domani, Kantstraße 148, 10623 Berlinalias (www.aliasdesign.it) erhältlich u.a. bei Kollwitz 45m, Kollwitzstraße 45, 10405 Berlin & Arno, Savignyplatz/Stadtbahnbogen 590, 10623 Berlin

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