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Nietzsche goes to Salecina

Das Ferienzentrum Salecina im Schweizer Engadin ist in der Krise. Die Aufhebung der Trennung von öffentlich und privat und fehlender Komfort sind unmodern geworden. Ein Förderverein und eine neue „filosofia di casa“ sollen weiterhelfen

von SOLVEJG MÜLLER

Von Sils-Maria bis Salecina wäre Nietzsche zwei Stunden am Ufer des Silser Sees entlang auf weichem Waldboden gewandert. Ganz sicher hat er den überwiegenden Teil dieses Weges gekannt, ist bei Maloja an dem Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert vorbeigekommen, in dem sich das selbst verwaltete Ferien- und Bildungszentrum der Stiftung „Salecina“ eingerichtet hat.

Der Genius Loci der grandiosen Hochgebirgs-, Wald- und Seenlandschaft südlich von Sankt Moritz zieht auch andere Philosophierende an. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts macht Adorno immer wieder in Sils-Maria Urlaub. Unter anderem forscht er hier mit Herbert Marcuse auf Nietzsches Spuren. Der Meister der Kritischen Theorie beginnt ein Gespräch mit dem Kolonialwarenhändler, der als Kind Nietzsche noch kannte.

Dialoge haben im Oberengadin, das Nietzsche als „so fern vom Leben, so metaphysisch“ charakterisiert, Tradition. Adorno versucht das „Pathos der Distanz“, das er Nietzsche zuschreibt, auch in dieser Landschaft zu sehen. Da scheint es fast als ein Witz der Gechichte, dass just sie die Kulisse für „Heidi“-Filme bot! Auch der Ort Maloja am Südzipfel des Silser Sees reiht sich in die Tradition der philosophischen Stätten ein. Zunächst unrühmlich – gerade hier in Maloja wurde Ernst Bloch 1934 aus seinem ersten Emigrationsland ausgewiesen. Doch spätestens ab 1971 wurde in dem Ort wieder heftig debattiert – im vom Züricher Buchhändlerehepaar Theo und Amalie Pinkus neu gegründeten, den Idealen der 68er verpflichteten Ferien- und Bildungszentrum „Salecina“. Doch jetzt: Angst vor dem Stillstand der Dialoge.

Die große, temporäre Wohngemeinschaft sucht neue Wege. Immer wieder wird in diesen Monaten am Kamin die „filosofia di casa“ beschworen, eine Philisophie, die zunächst ganz konträr zu den Lehren des berühmten Nachbarn, dem so genannten „Einsiedler von Sils-Maria“, erscheint. Seit knapp dreißig Jahren gibt es nun diesen Versuch der Utopie – Ernst Blochs Geist weht immer noch mit einem lauen Lüftchen. Jahrelang hielt sich die Gästezahl konstant. Es sind in der Mehrheit Deutsche, aber auch Italiener und Schweizer. Viele der „Salecinesen“ sind irgendwie Ex-WGler, Ex-Alternative, Ex-Linke. Doch gerade dieses „Ex“ führte in die schwerste Krise, die Salecina jemals hatte: Es melden sich zu wenig Gäste an. Die zum Erhalt nötigen 10.000 Übernachtungen pro Jahr kommen nicht mehr zustande. Eine Umfrage unter den Besuchern ergab, dass die Matratzenlager in sieben Zimmern und ein Teil der Selbstverwaltung wie das abendliche Spülen nicht mehr den Bedürfnissen der älter gewordenen Stammgäste entsprechen. Der Altersdurchschnitt wird nur noch die anwachsende Zahl von Kindern gleich bleibend gehalten. Doch Kinder, zwar sehr willkommen, zahlen auch weniger.

Die Krise rührt an den Nerv von Salecina. Oder zumindest an den Nerv der Tradition des Hauses. Keine Trennung von Urlaub und Hausarbeit, keine Trennung durch Einzel- oder Zweibettzimmer, keine Trennung der Geschlechter in den Gruppenzimmern und – so die Idee von Pinkus – keine Trennung von Urlaub und Bildung.

Info: Förderverein „Amici e amiche di Salecina“, CH-7516 Maloja, (00 41-81) 8 24 32 39, Fax: (00 41-81) 8 24 35 75, E-Mail: info@salecina.ch

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