: Es kömmt darauf an, sie zu interpretieren
■ Jan Philipp Reemtsma interessiert sich für den Krieg, dessen Rechtfertigungen und das Problem des Bösen. Jetzt sprach der Gelehrte in der Bremer Uni über eine neue Bescheidenheit der Geschichtsschreibung
Am Anfang war der Tatendrang. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert – es kömmt darauf an, sie zu verändern“, schrieb Karl Marx in die elfte Feuerbachthese. Damit übersetzte Marx die theoretischen Vordenkereien der Herren Kant, Hegel und Co. in ein Programm, das unter anderem die Geschichtsphilosophen zu handelnden Subjekten machen sollte. Jetzt aber kömmt Jan Philipp Reemtsma daher, um ausgerechnet in der Bremer Universität ausgerechnet in einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus zu sagen: „Die Geschichtschreibung wird eine eher marginale Zunft werden.“ Und er erntet viel Beifall dafür.
Die Uni Bremen, der neue Hörsaal am geisteswissenschaftlichen Gebäude GW 1. In ihren Anfangszeiten verzichtete die Uni nicht bloß auf Hörsäle, sondern auch auf Vorlesungen. Jetzt motzen einige BesucherInnen des fast überfüllten 300-Plätze-Saals leise darüber, dass die VeranstalterInnen nicht den 500 Gäste fassenden Hörsaal in der „Keksdose“ gewählt haben. Seit drei Jahren begeht auch die Uni den Jahrestag der Auschwitz-Befreiung am 27. Januar. Am oder kurz vor dem Gedenktag gibt es aber keine Reden im herkömmlichen Sinn, sondern einen wissenschaftlichen Vortrag. Jahr für Jahr sind immer mehr ZuhörerInnen gekommen. Doch so voll wie am Donnerstag war es noch nie.
Reemtsma zieht. Vor Augen und Ohren vieler ehemaliger Weltveränderer und Anhänger des dialektischen wie historischen Materialismus spricht Reemtsma über die „Geschichtsschreibung und den öffentlichen Wunsch nach Sinnstiftung“. Hinter diesem Thema verbirgt sich keine Anspielung auf die Auseinandersetzungen um die so genannte Wehrmachtsausstellung des von Reemtsma gegründeten Hamburger Instituts für Sozialforschung. Auch auf den möglichen Sinngehalt der aktuellen Debatte um die Rolle der 68er geht er nicht ein. Reemtsma denkt weiter.
In einer Art Berufsberatung für Historiker bricht er zu einer intellektuellen Reise zur Rolle der Geschichtsschreibung auf. Auch Reemtsma konstatiert das Ende der Geschichtsphilosophie. Nach einem letzten Auflodern in der Debatte um die These vom „Ende der Geschichte“ ist dazu offenbar alles gesagt. „Geschichte als Richtstätte kommt nicht mehr vor, von Geschichte als sinnenthaltend zu sprechen, geht nicht mehr“, sagt er und bleibt die Antwort schuldig, welchem Club er sich anschließt: den Theoretikern, die (idealisiserte) Zukunft und (noch nicht ideale) Gegenwart für verschmolzen halten, oder den Denkern, die die Fortschrittsidee generell ablehnen.
Reemtsma hat konkrete Probleme. Wer sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst, begibt sich in Schwierigkeiten: „Man nimmt nicht einfach zu einer historischen Frage Stellung“, weiß Reemtsma. Man dürfe bestimmte Gruppen nicht beleidigen, keine falschen Fragen stellen und keine unzulässigen Vergleiche ziehen.
Auch wenn für Reemtsma das Ende der Geschichtsphilosophie gekommen ist, sind aus ihr hervorgegangene Rhetoriken noch immer präsent. Der Theologie verwandt, beschreibt die Geschichtsphilosophie einen Weg zum Besseren (oder, wie Adorno, zum Schlechteren) und holt das biblische Paradies (oder die Hölle) auf die Erde. Schon Hegel wusste, das auf dem Weg dahin „manche Blume geknickt werden muss“. Reemtsmas Übersetzung: „Drei Rhetoriken. Erstens: Die Rhetorik des Zivilisationsauftrags“. Im Gegensatz zur „Rhetorik der eschatologischen Säuberung“ (unter der die Kommunisten für den höheren Zweck Verräter aus dem Weg räumten) und der „Rhetorik des Bruchs mit der Moderne“ (unter der die Nazis Gewalt und Kampf zum Wert an sich erklär(t)en) ist Rhetorik Nummer eins tagesaktuell. Zuletzt die Nato-Bombardements auf Jugoslawien wurden mit der „Rhetorik des Zivilisationsauftrags“ begründet.
In Reemtsmas Denken sind Grundthemen wie die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit und „das Problem des Bösen“, über die sich schon Theologen den Kopf zerbrachen, weiter aktuell. „Seine“ drei Rhetoriken sind Werkzeuge für die Suche nach Antworten. Das Böse ist nach Reemtsmas Auffassung nicht einfach ein vorübergehendes Zwischenspiel auf dem Weg zu der schon von Kant vorgedachten Weltgesellschaft. Für den Hamburger Sozialforscher und Gelehrten bleibt die Frage danach, wie Auschwitz geschehen konnte, „bestehen und ist virulenter denn je“. Beifall, und dann eine Schweigeminute. ck
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