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„Weit weg von der Welt“

Die Menschen in Oberschöneweide packen reihenweise ihre Koffer. Einst blühte im Südosten der Hauptstadt die Berliner Elektroindustrie, jetzt boomen höchstens Schnäppchenläden

von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA

In der Brückenstraße hat die Betreiberin eines Keramikgeschäftes einen handgeschriebenen Abschiedsbrief an ihre Kundschaft hinterlassen. „Acht Jahren Brückenstraße bedeuten für uns Lebensinhalt, uneingeschränkte Hingabe, immerwährende Freude am Herstellen, Beschaffen, Gestalten und Verkaufen“, schreibt sie. Wenige Sätze weiter: „Die Umstände lassen keine andere Entscheidung zu. Lange haben wir diesen Schritt, unsere schönen Dinge einzupacken, hinausgezögert.“

Christine Rosenthal zog mit ihrer selbst gefertigten Keramik weg aus der Brückenstraße in Oberschöneweide, wo Läden wie „Drollie Zookauf“, „Handy MAXX“, „Billig Discount“ oder „Conny’s Container“ und jede Menge leere Schaufenster das Straßenbild bestimmen. Entweder sind die Schaufenster mit Ankündigungen von farbenfrohen Diashows über Kuba mit blauem Himmel und weißem Strand, Neuseeland mit Regenwäldern und saftigen Riesenfarmen zugeklebt – oder mit Schildern, die jegliche Werbung unter Androhung einer Anzeige verbieten.

Seit März 1999 verkauft die Töpferin ihre Waren im Nikolaiviertel in Mitte – mit Blick auf den Berliner Dom, die Marienkirche und das Rote Rathaus. Das Geschäft in der Brückenstraße steht noch immer leer. Christine Rosenthal zu den Gründen des Wegzugs: „Ich habe die Tristheit nicht mehr ertragen. Ich dachte, ich werde krank. 1990 habe sie ihr Geschäft mit „sehr, sehr, sehr viel Herzblut“ eröffnet. Wenige Jahre später blieb die Laufkundschaft aus; der Wohnungsleerstand und die Ansiedlung von Billiganbietern nahm zu. „Dieser Kreislauf zieht Menschen an, die mit dem, was ich mache, nichts anfangen können.“ Ihren Wegzug bedauert die Töpferin noch heute. Nicht weil sie noch etwa zehn Jahre an dem damals aufgenommenen Kredit zahlen muss, sondern weil es „ein großer Jammer ist“.

In der Edisonstraße, der Verlängerung der Brückenstraße, auf der anderen Seite der Spree, sieht es noch trauriger aus. Alle paar Meter klebt ein „Zu vermieten“-Schild an schmutzigen Schaufenstern. Alte Schriftzüge verraten, welche Waren dort einmal angeboten wurden: „Alles für’s Kind“, „Mode Shop Schneiderei“, „Il maestro“, „Weber’s Bierstube“, „Das Brötchenmobil“, „Kosmetik Salon Solarium“. Die wenigen sanierten Häuser und selbst die „Spreehöfe“ gegenüber von AEG verlieren sich inmitten der vielen halbleeren, heruntergekommenen Altbauten. Ununterbrochen schiebt sich der Autoverkehr in vier Spuren durch die enge Straße; die Straßenbahnen sind so laut, dass das eigene Wort kaum zu verstehen ist.

Der Namensgeber der Straße, einer der erfolgreichsten Erfinder des 19. Jahrhunderts, ertaubte im Alter von zwölf Jahren. Davon weiß das Ehepaar Panzer, das in der Edisonstraße einen Trödelladen betreibt, zwar nichts. Doch sie befürchten, taub zu werden, wenn sie noch länger an der lauten Straße arbeiten und in der Wohnung direkt über ihrem Laden wohnen bleiben. „Die Straße ist abartig laut und dreckig“, sagt Gabriele Panzer. Zum 1. April haben sie den Mietvertrag für das Geschäft gekündigt. „Man kriegt hier schlechte Laune und Kopfschmerzen“, sagt die 38-Jährige. Und: „Es ist nichts los, und alle ziehen weg.“

Die Panzers sind 1997 nach Oberschöneweide gezogen. Der Grund: Detlef Panzer ist hier geboren und sechs Tage nach dem Mauerbau mit seinen Eltern nach Neukölln gegangen. „Ich dachte, es wäre wie früher, gehobener Mittelstand“, begründetder 51-Jährige seine Rückkehr. Doch seine Hoffnung auf eine belebte Einkaufsstraße haben sich nicht erfüllt. Heute bedauert er seine Entscheidung. „Die Hälfte der Kunden sind Alkoholiker, Asoziale und Rentner.“ Und: „Alle wollen etwas verkaufen und nichts kaufen.“

Über das Umfeld können die Panzers nur klagen: „Nebenan im Haus wohnen viele Fidschis“, sagt Gabriele Panzer. „Wenn die sich mal wieder gegenseitig abknallen, stehen drei Mannschaftswagen vor der Tür.“ Aus Mangel an Geschäften fahren die Panzers zum Einkaufen ins nahegelegene „Forum Köpenick“. Wollen sie abends ein Bier trinken, zieht es sie nach Neukölln. Sobald sie den Ausverkauf hinter sich haben, wollen sie auch ihre Wohnung kündigen. Sollten sie im Lotto sechs Richtige gewinnen, wäre es ein „kleines Haus im Grünen“. Stimmen die Zahlen nicht, dann tut es auch eine Mietwohnung in Lichtenrade oder Rudow.

Eine 61-jährige Frau dagegen, die zusammen mit ihrer 38-jährigen Tochter einen hölzernen Handtuchhalter inspiziert, schwärmt von der „schönen Natur in der Wuhlheide“. Doch im nächsten Moment kritisiert auch sie „das ganze Umfeld, das nicht stimmt“. Ihre Tochter, die mit ihren drei Kindern vor fünf Jahren von der Urbanstraße in Kreuzberg nach Oberschöneweide zog, weil sie dort ohne Problem eine große Wohnung bekommen hat, stimmt ihr nicht zu. „Ich finde es schön hier“, sagt sie. „Ich verstehe nicht, warum die Alteingesessenen wegziehen.“ Das nahe gelegene Freizeit- und Erholungszentrum in der Wuhlheide sei ideal für die Kinder. Die Einkaufsmöglichkeiten – Aldi, Lidl und Kaiser‘s – mehr als zufrieden stellend. Weil sie selbst abends nicht weggeht, vermisse sie nichts. „Es müssten mehr Menschen herziehen“, so die Mutter. „Dann kommt der Aufschwung schneller“.

Theo Killewald vom Quartiersmanagement Oberschöneweide wehrt sich seit geraumer Zeit dagegen, den Bezirk „runterzuschreiben“. „Vor anderthalb Jahren stand Oberschöneweide auf der Kippe“, erzählt er. Doch im letzten Jahr habe sich „gewaltig viel getan“. Die Wilhelminenhofstraße, die Hauptstraße des Ortes, die einst mit „Exquisit“ und „Delikat“-Geschäften für viel Kundschaft sorgte, wurde im letzten Jahr fertiggestellt. Das habe bei den Gewerbetreibenden zwar „noch nicht so richtig angeschlagen“ – 64 belegte Geschäfte stehen 37 leeren gegenüber.

Doch Killewald wertet die „Massen“, die im vergangenen Jahr zum Tag des offenen Denkmals nach Oberschöneweide strömten, als gutes Zeichen. Auch die eigens eingerichtete Wohnraumbörse komme gut an. „Vor zwei Jahren hatten wir Angst vor saniertem Leerstand“, sagt er. „Jetzt nicht mehr.“ Trotz Problemen wie „Funktionsschwächen“ und „Bürgern, die sich nicht richtig einbringen“, gibt Killewald dem Gebiet „eine große Chance“.

Davon ist im „Edison-Eck“ nichts zu spüren. Die Inhaberin bietet vergeblich Eisbein für 7,60 Mark und Schweinebraten für 6,90 Mark an. Das Berliner Kindl für 2,60 Mark dagegen geht besser. „Tagsüber ist es ganz flau“, sagt sie. Der Grund: „Es gibt zu wenig Geschäfte, zu viele Arbeitslose und keine Laufkundschaft.“ Ihr Fazit: „Es geht nicht vorwärts, sondern zurück.“ Abends würde es einigermaßen gehen – dank der Stammgäste.

Einer davon ist ein ehemaliger Kran- und Staplerfahrer, der seit vier Jahren arbeitslos ist und gelegentlich auch schon mittags vorbeikommt. „Es ist schon schlimm“, sagt der 51-Jährige. Doch weil er in Oberschöneweide geboren und aufgewachsen ist und seine pflegebedürftige Mutter im gleichen Haus wohnt, will er nicht weg. „Das ist doch meine Heimat“ sagt er. Ein weiterer Gast, der ebenfalls in Oberschöneweide geboren wurde und nach der Ausreise in den Westen vor fünf Jahren Mariendorf den Rücken kehrte, hat den Umzug auf eine Art bereut: „Man ist hier weit weg von der Welt.“ Besonders schlimm findet er, dass viele Menschen keinen Mut mehr haben. „Denen ist alles egal.“ Doch ernsthaft an Wegzug denkt er nicht. Denn: „Die Miete ist preiswert, und man kennt viele Leute.“ Und: „Dann kann die Wirtin die Jalousien runterlassen“, sagt er lachend.

Verlässt man das „Edison-Eck“ und biegt in eine der Nebenstraßen ein, finden sich, wie auch in anderen Seitenstraßen, wunderschön sanierte Villen. Auf den frischen Fassaden prangen viele „Zu vermieten“- und „Zu verkaufen“-Schilder. Und wenige Meter weiter findet sich wieder nur Tristesse. Ein 46-jähriger Immobilienkaufmann, der vor drei Jahren von Steglitz nach Oberschöneweide zog, will wieder weg. „Ein Bekannter wollte mir die Hausverwaltung vermitteln“, sagt er. „Aber bei vier Mietern brauchen sie nichts verwalten.“ Rausgedrehte Sicherungen und aufgebrochene Briefkästen seien in seinem halb leeren Haus an der Tagesordnung. „Aufschwung Ost kann man hier vergessen.“ Ein Versicherungsvertreter, der seit der Wende in der Gegend unterwegs ist, weiß: „Wer kann, der zieht weg.“ Entweder sei der Verkehr zu laut, die Wohnungen zu alt oder zu teuer.

Helmut Stern, der Leiter des Büros des Köpenicker Bürgermeisters, gibt Wolfgang Thierse, der in seinem Offenen Brief vor dem „Kippen“ von Gebieten warnt, Recht. Unter einer Bedingung: „Wenn er von Problemen spricht und das Problembewußtsein schärft.“ Nach seiner Überzeugung ist Oberschöneweide „über den Berg“: „Wir tun alles, damit es nicht kippt.“ Seinen Optimismus zieht Stern aus der nahe gelegenen Wuhlheide und „relativ preiswertem Wohnraum“, der zunehmend Mieter anziehe. Abzuwarten bleibt, ob die Zukunftsvision, die die Betroffenenvertretung Oberschöneweide entworfen hat, wahr wird: „von der grauen Maus zum Kronjuwel“.

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