: Organisierte Jagd auf Farbige
Nach dem Mord an einem 15-Jährigen sehen sich Polizei und Justiz in Norwegen einer wachsenden Kritik ausgesetzt. Auch ein Verbot von Neonazi-Gruppen wird diskutiert
STOCKHOLM taz ■ Die Ermordung des 15-jährigen farbigen Benjamin Hermansen durch vermutlich neonazistische TäterInnen hat in Norwegen nicht nur eine Verbotsdebatte und eine Diskussion über Versäumnisse ausgelöst. Auch die Fahndungsbemühungen wurden gestern verstärkt und auf ganz Europa ausgedehnt: Die Polizei fahndet im Zusammenhang mit der Bluttat über Interpol nach dem mehrfach wegen Gewalttaten vorbestraften Joe Erling Jahr.
An der Spitze der nordischen Neonaziszene sind Schreibtischtäter: Erik Blücher, ein Norweger, der in Schweden lebt, Gewalt predigt und als ein zentraler Kontaktmann der rechtsextremen Szene Skandinaviens nach Deutschland und Großbritannien gilt. Und ein Altnazi: Der 57-jährige Tore Wilhelm Tvedt, der in Norwegen versucht, einen Ableger der amerikanischen „National Alliance“ aufzubauen.
Die beiden minderjährigen Mädchen und die drei Männer, die wegen der Ermordung Benjamins seit Sonntag in U-Haft sitzen – drei sind seit gestern wieder auf freiem Fuß – stammen aus Tvedts Neonaziorganisation „Vigrid“, die die Vorzüglichkeit der „weißen Rasse“ propagiert. Auf den Internetseiten von „Vigrid“ findet man Fotos von Taufzeremonien, wo sich Tvedts Jünger „zwischen Eis und Feuer unserem mächtigen Schöpfer Odin weihen“. Tvedt, der neben „Vigrid“ auch die „Gesellschaft für wahre Geschichte“ gegründet hat, die den Holocaust leugnet und vom „ewigen Glanz und Opferwillen“ der Waffen-SS faselt, betreibt auch einen Internetversand für rechtsradikale Literatur und Nazi-Devotionalien.
Messerstechereien gehören bei „Vigrid“ offenbar zum Kampfrepertoire: Im März 2000 wurden zwei Afrikaner durch sechs Messerstiche verletzt, als sie gegen vier Verteiler von „Vigrid“-Flugblättern in Stavanger protestieren wollten. Zwei Verteiler waren „Vigrid“-Mitglieder, zwei gehörten der militanten Osloer Neonazi-Gruppe „Boot Boys“ an. Dass beide Gruppen eng kooperieren, wird auch daran deutlich, dass gegen die gleichen vier Personen derzeit ein Ermittlungsverfahren wegen Messerstichen gegen einen Eritreaner in der Neujahrsnacht in Kristiansand läuft. Einer der Verdächtigen und jetzt Festgenommenen wohnt im gleichen Stadtteil wie der ermordete Benjamin. Gegen ihn und die beiden anderen männlichen Verdächtigen läuft noch ein Verfahren wegen Messerstichen gegen eine Pakistanerin im Dezember in Oslo.
Justiz und Polizei wird im Zusammenhang mit dem jüngsten Mord vorgeworfen, sie hätten die Parallelen zwischen den letzten Gewalttaten nicht sehen wollen. Doch die Medien, die dies anprangern, sitzen fast ausnahmslos im Glashaus. Auch sie wollten das Bild einer gewaltsamen Strategie zur Verwirklichung der Vision eines „rassereinen Vaterlands“ nicht wahrhaben.
Benjamin ist möglicherweise nur „zufälliges“ Opfer neonazistischer Aktivitäten, die in den eigenen Kreisen unter dem Stichwort „Angelausflug“ laufen: die Jagd auf AntirassistInnen oder Farbige. Am letzten Freitag sollen vier mit Mitgliedern von „Vigrid“ und „Boot Boys“ besetzte Pkws im von vielen AusländerInnen bewohnten Osloer Stadtteil Holmlia bei einem „Angelausflug“ ihre Runde gedreht haben, um ein „dunkelhäutiges“ Opfer ausfindig zu machen.
Der Ausflug endete tödlich. Plötzlich sprach Ministerpräsident Jens Stoltenberg von „etwas Neuem, was wir für unmöglich hielten in unserem Land“. Und Kulturministerin Ellen Horn brachte das Verbot neonazistischer Gruppen in die Diskussion, stieß aber schnell auf Ablehnung. Arnulf Kolstad, Professor für Sozialpsychologie, glaubt weder an Verbote noch an strengere Strafen: „Das verstärkt nur die Gruppenmentalität in diesen Kreisen, die meinen, sie führten Krieg. Der einzige Weg ist, eine Neurekrutierung in dieses Milieu zu stoppen.“ REINHARD WOLFF
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