: Die alte Welt der stummen Opfer
Die Rede vom Wahnsinn war lange Zeit nur noch ein Ausdruck für mangelnde Sprachkompetenz: Ein Wahnsinn, das mit BSE. Nun wird aber in dem von der EU verlangten Massentötungsprogramm für Rinder nur weiterer Kompetenzmangel sichtbar
von PETER FUCHS
In der BSE-Angelegenheit wird leidenschaftlich diskutiert. Es geht schließlich um unsere und mehr noch: um die Gesundheit unserer Kinder. Die Diskussion scheint nötig, und dass sie wenig kühl geführt wird, verwundert nicht. Die Relevanz des Themas steht außer Frage, Hitzigkeiten werden deshalb akzeptiert und machen massenmediale Karriere. Dass Minister/innen-Köpfe rollen, wer würde das nicht begreifen wollen? Und wie immer tauchen aus allen Schubladen die Leute auf, die alles schon zuvor gewusst hatten, und kneten (vielleicht mit klammheimlicher Schadenfreude) Moral in den Teig der Debatte. Die Kinder, für die das Schicksal, das mit der BSE-Infektion verknüpft ist, noch eine echte Möglichkeit darstellt, verzichten auf alles, was im Verdacht steht, riskant zu sein, Lakritz, Labello, Lungenwurst.
Das alles scheint katastrophisch normal oder normal katastrophisch zu sein und hat doch seltsame Züge. Einer davon ist die Rede vom Wahnsinn, die man lange nicht mehr so ernsthaft gehört hat. Die Weltgesundheitsorganisation kennt den Wahnsinn jedenfalls kaum noch, er ist nosologisch zerstäubt, er ist nichts, wofür sich ein klares Krankheitsbild finden ließe. Dass etwas ein Wahnsinn sei oder gar waahhnnnsinnig, ist alltäglich nur noch der Ausdruck für fehlende Sprachkompetenz. Wer die Farben des Sonnenuntergangs nicht benennen kann, findet’s halt wahnsinnig – ein Wahnsinn die Sonne da, ein Wahnsinn der erste pampersfrei abgewickelte, topfgenaue Stuhlgang eines Kindes, ein Wahnsinn auch die Ölpreise, Stefan Raabs siedende Leere, die Goldpreise und die Gewalt der rechten Jugendlichen.
Natürlich gibt es auch noch den Wahnsinn bei Foucault, die Geschichte einer großen Exklusion, die die so Anderen des Wahnsinns auf die Narrenschiffe und die Narrentürme zwang, Geschichte der Narrheit, die in eine ebenso fatale medizinische Inklusion führt, die von Narrheit und Wahnsinn aber nicht mehr zu sprechen pflegt, eine furchtbare Geschichte verbergend unter dem Mantel sanfter, närrisch auf Normalität bedachter Korrektheit. Aber immerhin, da ist das Wort noch in seiner uralten Drohung, in seinem obsessiven Charakter, da klingt noch das Augenrollen mit, der Amok, die Trance zuckender Körper, die Exorzismen und die Gehirnrüttelmaschinen des 19. Jahrhunderts, Schweiß und Blut, die eiskalten Bäder, die Stromstöße, der fremde Blick, die Irrenhäuser, die Heilanstalten, die Landeskliniken. In diesem Wortgebrauch, der vergessen schien, spielt noch die Urangst ihr Lied auf, nicht die, man könnte werden wie die Wahnsinnigen, sondern das unter dem Signum der Normalität geschätzte Phantasma könnte selbst dies sein – ein Wahn und ein schwer fassbarer (im Sinne Freuds: unheimlicher) Sinn.
Verdächtig ist, dass der bovinen spongioformen Enzephalopathie dieser Zweitname des Wahnsinns gegeben wurde. Nur wenige Krankheiten werden auf diese Weise nobilitiert, die Pest als schwarzer Tod etwa, deren Todesschwadrone durch das Mittelalter hetzten, aber schon nicht mehr Aids, eine Seuche, die doch eine an Verbreitungswucht und Sterbenselend mit BSE kaum vergleichbare Wirkung entfaltet und die auf Grund ihrer sexuellen Konnotationen starke Anhaltspunkte für ihre Mythologisierung gegeben hätte. Stattdessen also das Schreck- und Grauenspseudonym einer Enzephalopathie: Rinderwahnsinn.
Man sieht es allerdings den schwarzbunten, bunt gescheckten oder monochromen Tieren, die neben lindgrünen oder weißen Plastikheuwalzen das Mobiliar unserer gepflegten Wiesen darstellen, nicht an, dass ihr Name (dem des Wolfes vergleichbar) nicht nur Tafelspitz und Sauerbraten, sondern eine kaum entwirrbare Schar mystisch-mythologischer Bezüge aufruft. Das Kalb, die Kuh, der Stier, Bulle, Ochse und Rind spielen Hauptrollen in der phantasmatischen Geschichte der Menschheit. Die Stierkulte der Antike (und die Hemingway’schen der Gegenwart), der Ochse in Betlehems Stall, die heilige Kuh der Inder, der Bukephalos Alexanders, die sanften Kälber und die schwarze Gewalt der scharrenden, schnaubenden Bullen, die nackten Stierüberspringer in Kreta, der geduldige Ochse vor dem Pflug, friedvoll mahlende Wiederkäuer, Fruchtbarkeitsriten, Europa auf dem Stier, der Milzbrand und die aufgeschnittenen Rinderaugen, die der Bakterienaufzucht dienten, die Stampede als lemminggleicher Irrsinn, Wisent und Bison – ein melting pot alter und neu aufgelegter Motive. Noch der Trickster Bugs Bunny hat es mit der Urgewalt entfesselter Stiere zu tun. Die Wärme der Kuhställe, der Duft nach Heu und Stroh, das Mythologem der mutterhaft warmen Milch (heute vom Bauernhof geholt) hat Generationen von Naturbeflissenen das Gefühl vermittelt, nah dran zu sein, aber nah an was?
Aber das ist beileibe nicht alles. Der Wahnsinn und das Rind, was wäre das ohne jenes andere furchtbare Bild, ohne die Brand- und Opferaltäre, ohne die brennenden Öfen, ohne diese infernalischen Inszenierungen gekeulter Tiere, die mit Baggern und Traktoren in die flammenden Höllenschlünde geschoben werden? Da spulen sich Uraltbilder ab und ein, die Hekatomben geopferter Rinder in Jahrzehntausenden (und der Ausblutetod ihrer mythischen Vettern, der Schafe), der Feuertod als Ritual, als Reinigung, als stellvertretende Sühne, die Scheiterhaufen, der geregelte Irrsinn industriell organisierter Körperentsorgung, der nicht einmal ein Darbringen der Opfer inszeniert, nicht einmal Schlachtung ist, nicht einmal Opfer kennt. Das ist die viehische Ausrottung von Vieh, die schiere Indifferenz gegenüber Leid, für die das Feuer als Zeichen einsteht. Man hatte nicht erwartet, dass die Moderne uns noch einmal diese Bilder bieten würde, Bilder einer Ausrottung, deren Gegenbild allenfalls Hitchcock in seinen „Vögeln“ offerierte.
Dass man dies alles sehen kann, das macht den Furor dieser Inszenierung aus. Die moderne Gesellschaft pflegt all diese kleinen Tode sonst im Stillen zu vollziehen. Moriendum est, es ist zu sterben, aber doch wohl hinter den Kulissen, in den industrialisierten Aufzucht-, Schlacht- und Verwertungsanlagen, im Verborgenen, aber doch nicht so, vor aller Augen – die Inflammation von Myriaden einst beseelter Körper, die zu Zeiten geschieht, in denen das Leben und die Beseelung nicht mehr ganz so ernst genommen werden, in denen einschlägige Achtungsverluste an der Tagesordnung sind, zu Zeiten also der Vision des Gen-Styling, der Behindertenentstehungvermeidungsstrategien, die jeden lebenden Behinderten zu einem zu früh Geborenen machen, zu Zeiten des Körperperfektionswahns, der chirurgisch sterilen Kriege, der Sterbe- und Leideverschweigung, die ihresgleichen sucht, Phantasma eines Fortschritts, auf dessen diabolischer Kehrseite die wieder aufflammenden Öfen stehen.
Es ist ein Schauspiel, das wir sehen, eine plötzliche aufflammende Schrift an der Wand. Kulturkritik wirkt lächerlich. Es geht nicht um Gesundheit, um die Sicherheit unserer Ernährung, das ist schon ein eigener Wahn. Die Dimensionen dieser tatsächlichen und geplanten Verbrennungen sprengen das Thema sorgfältig austarierter Lebensführung, sorgfältig ausgewogener Zukunftspläne, sprengen jeden maßvollen oder maßlosen Hedonismus. Selbst Massenhysterie ist ein zu braves Wort. Der Wahnsinn passt, das Zauberwort ist getroffen, aber es heilt nichts. Die Entzauberung der Mythen ist nicht gelungen. Die Aufklärung war ein Spuk im Angesicht dieser Entfesselung. Das Unheimliche hält Einzug und schafft sich neue alte, alte neue Symbole.
Ein Menetekel geschieht. Andere Generationen werden fragen, welcher Wahnsinn uns geritten hat und, sollte eine Spur von Intelligenz und Humanität sich erhalten, welche bizarre Katharsis (sonder Furcht und Mitleid) wir uns gönnen mussten und wie es kam, dass in Blut und fettem Rauch sich die alte Welt der stummen Opfer vorwälzen konnte.
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