: Viel Job, wenig Liebe
Die Leistungsgesellschaft führt zum heimlichen Gebärstreik. Jede dritte 35-Jährige ist kinderlos – die meisten bleiben es
von BARBARA DRIBBUSCH
Der Kanadier Jerry Steinberg hatte die Nase voll. All seine Kumpels hatten geheiratet, in seinem Freundeskreis wurde nur noch über Babys geschwafelt. Steinberg gründete „No Kidding!“. Heute treffen sich in weltweit 56 dieser Gruppen Kinderlose zu Picknicks und Pyjamapartys, wobei das Thema Nachwuchs sorgfältig vermieden wird.
Auch in Deutschland gäbe es wohl Interessenten für „No Kidding!“ – denn auch hierzulande steigt die Zahl der Kinderlosen. Jede dritte Frau im Alter von 35 Jahren ist kinderlos. Der Anteil der Last-Minute-Mütter rettet die Bilanz dabei nicht: Nur jede 30. Frau bekommt jenseits des 35. Lebensjahres noch ihr erstes Kind. Die Deutschen sterben mit einer Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau allmählich aus.
Das ruft Familienpolitiker auf den Plan. Alle Fraktionen im Bundestag haben in den vergangenen Wochen neue Konzepte versprochen (siehe unteren Text). Ob aber eine kinderfreundlichere Politik die Geburtenrate nennenswert steigern kann, wird von Experten bezweifelt. Eine optimale Familienpolitik könnte sie höchstens um 0,2 Prozent erhöhen, glaubt der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg von der Universität Bielefeld. In Frankreich etwa, wo es Ganztagsschulen und ein höheres Familiengeld gibt, bringen die Frauen auch nur rechnerische 1,6 Kinder zur Welt. Selbst im hoch gelobten Schweden ist die Geburtenrate inzwischen auf 1,5 abgesackt.
Die Gründe für die wachsende Kinderlosigkeit liegen in der Struktur der dynamischen Erwerbsgesellschaft selbst, glaubt Birg. „Tugenden, die eine hohe Produktivität ermöglichen, sind kinder- und eheunfreundlich.“ Nach seiner Erkenntnis entscheiden sich Männer und Frauen nicht bewusst gegen eine Familie. Sie haben bloß immer gerade etwas Besseres zu tun, als gerade Kinder in die Welt zu setzen, mit allen damit verbundenen Risiken.
„In jüngeren Jahren haben fast alle einen Kinderwunsch“, erklärt Jürgen Dorbritz, Wissenschaftler am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Doch dann verenge sich das „biografische Zeitfenster“. Die Frauen absolvieren erst eine Ausbildung, danach folgt der Berufseinstieg, vielleicht mit einer befristeten Anstellung. Dann kommt vielleicht ein Ortswechsel hinzu, oft ohne den Freund. In den entscheidenden späteren Jahren fehlt dann nicht selten der Partner: In einschlägigen Studien begründeten Frauen im Alter zwischen 30 und 39 Jahren ihre Kinderlosigkeit häufiger mit einer fehlenden Partnerschaft als mit der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie.
Die Männer haben zwar den Vorteil der längeren Fruchtbarkeit, doch irgendwann müssen auch sie eine Partnerin finden. Und da kann es eng werden. „Statistisch bleiben mehr Männer kinderlos als Frauen“, so Dorbritz. Manche Männer bekommen zwar in zweiter Ehe noch Kinder, aber viele andere bleiben für immer ohne Nachwuchs.
Ein Kind zu kriegen „engt die biografische Wahlfreiheit ein“, erklärt Jürgen Flöthmann von der Universität Bielefeld. Es verwundert daher kaum, dass sich eher jene auf Nachwuchs einlassen, die in ihrem Leben gar nicht so viele Optionen haben bei der Jobsuche, vielleicht auch bei der Partnerwahl. Schlechter verdienende und weniger gut ausgebildete Frauen bekommen laut Studien eher Babys. Die Kinderlosen finden sich hingegen vor allem unter den Hochqualifizierten und Paaren mit mittlerem Einkommen.
Wer schon ein Kind hat, entscheidet sich dabei oft noch für ein zweites. Der Anteil der Eltern mit nur einem Kind hat abgenommen, während der Anteil der Kinderlosen steigt. Bevölkerungswissenschaftler Birg spricht von einem Trend zur „Polarisierung“ zwischen Kinderlosen und Eltern.
Wenn diese These stimmt, dann stehen sich künftig zwei Lebensformen gegenüber. Wer Kinder hat und sich um sie kümmert, muss auf Konsum verzichten, den Alltag durchplanen und hat weniger Kraft für die Karriere. Kinderlose hingegen können sich in eine 60-Stunden-Woche stürzen und ihr Geld ausnahmslos für die eigenen Wünsche ausgeben. Dafür fehlt ihnen im Zweifelsfall der seelische Rückhalt in der Familie – und das kann emotional riskant sein in einer dynamischen Leistungsgesellschaft. „In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit wird das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit größer“, hat der Züricher Familiensoziologe Beat Fux erkannt.
Im globalen Gesamtbild scheint eine hohe wirtschaftliche Produktivität eine niedrige demografische Reproduktivität zu bedingen – und umgekehrt. In Kolumbien beispielsweise liegt die Geburtenrate bei 2,8 Kindern pro Frau. Diese ungleichen Entwicklungen haben Folgen: Im Jahr 2025 werden die entwickelten Länder lernen müssen, mit Millionen von Zuwanderern friedlich zusammenzuleben. Sie werden, so Birg, zu „demografisch-kulturellen Entwicklungsländern“ . Genau das ist der Horror vieler Familienpolitiker, auch in Deutschland.
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