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Wir Kinder vom Potsdamer Platz

Über die „Generation Mauerfall“ und ihre Gesellschaftserfahrungen: Was sie vor Augen hatte, war kein Happy End, sondern ein Anfang. Sie sah jede Veränderung als Geschenk und kostete den Wandel aus. Erster Teil einer Serie persönlicher Statements über das Berlin der Nachwendezeit

von HANS WOLFGANG HOFFMANN

Joschka Fischer muss nicht mehr zu seinen Jugendattacken gegen die Staatsmacht Stellung beziehen. Die Debatte um Lebensleistung und -lügen der Nachkriegsgeneration, die sich daran hätte festmachen lassen, erlosch so plötzlich, wie sie aufgeflackert war. Denn postwendend präsentierte die CDU jenes Plakat, das den Bundeskanzler wie in einer Verbrecherkartei zeigte. Prompt nahmen die Revolutionäre von 68 und die schweigende Mehrheit von damals ihre ewig geübte Gegnerschaft wieder auf – womit die Aussprache entlarvt war: als Binnenkonflikt der Bonner Republikaner. Ihre Nachfahren konnten sich daran weder beteiligen noch wollten sie es.

Sie sehen die Nachkriegsgeneration heute sogar auf Konfliktfeldern im Rückzug, auf denen sie sich einst einig war: etwa ihrem Verhältnis zur Geschichte. Besonders gut zu beobachten ist es am Altenteil des Außenministers, der ehemaligen Reichsbank des Dritten Reichs, wo die Nazis einst das Raubgold lagerten, das sie ihren Opfern aus dem Kiefern gebrochen hatten. Auf diese Erinnerungserblast nahm die jüngste Herrichtung des Hauses indes keine Rücksicht. Architekt Hans Kollhoff, der sie gestaltete, erhielt stattdessen einfach alles, was materiell die Ewigkeit zu erreichen versprach. Alles übrige ergänzte er im gleichen Duktus.

Als die Nachkriegsgeneration das sah, reagierte sie auf ihre Weise: Die Fachkritik, die sich mehrheitlich aus ihr rekrutiert, schüttelte schließlich synchron den Kopf. Joschka Fischer ließ wenigstens sein eigenes Büro toskanagleich mit Terracotta auskleiden, sodass er heute auf seinem Amtsposten wie im inneren Exil residiert. Seinen – jeder Staatsverdrossenheit unverdächtigen – Protokollchef Busso van Alvensleben beschlich das Gefühl, in diesem Haus Gästen gegenüber „besonders nett“ sein zu müssen. Nur einmal war zu lesen, die Brüche ablehnende Architektur im Altenteil des Auswärtigen Amts sei „ein Aushängeschild des vereinten Deutschland“, das „seine gerade geglückte Wiedereingliederung in den Lauf der Zeit vortrefflich vertritt“. Bezeichnenderweise stammte dieses Statement von einem Spätergeborenen.

Tatsächlich hätte die Einheitsgeneration nicht anders reagieren können. Als sie jung war, war aus allen geschichtlichen Verwerfungen der Nazizeit und ihrer Folgen längst langweilige Routine geworden. Ihre Vorfahren konnten die Welt als noch so dramatisch in Ost und West, Kommunismus und Kapitalismus, Arm und Reich, Staat und Bürger, In- und Ausländer polarisiert erklären, wie es ihren Erfahrungen entsprach: Sie spielte im engeren wie weiteren Schatten des Schutzwalls ganz normal.

Mit dem Mauerfall erlebten die Kinder des Potsdamer Platzes dann ihr erstes prägendes Epochenereignis. Doch anders als ihren Eltern erschien ihnen die Geschichte mehr als abenteuerliche Möglichkeitsform denn als wahr gewordene Utopie. Sie, die den Schauplatz der Geschichte als Novizen betraten, hatten weder eine politische Mission noch persönliche Komplexe abzuarbeiten. Sie waren frei von Verlusterfahrung, die ihre entwurzelten Vorfahren nun endlich kompensieren konnten, indem sie ganze Stadtzentren auf das energischste historisch korrekt rekonstruierten. Im Plattenbau mochten ihre Kinder kein Feindbild sehen. Ob sie sich dort oder in einem Gründerzeithaus einrichteten, war egal, solange sie es nur selbst taten. Im fertigen Palast der Republik konnten sie sich nicht zu Hause fühlen, doch wie sollten sie sicher sein, dass es ihnen in einem Schloss, dessen Wiederaufbau die Altvordern zu ihrer Sache machten, anders ergehen würde? Überhaupt konnten sie mit den allenthalben ins Kraut schießenden Utopien nichts anfangen. Vor den „blühenden Landschaften“, der „Ost-West-Drehscheibe“, der „Metropole“ oder dem „Neuen Berlin“ hatten sie weder Angst noch erwarteten sie etwas von ihnen – weshalb sie anschließend auch nicht enttäuscht waren, als sich diese Aufschwungsszenarien nicht erfüllten. Was sie vor Augen hatten, war kein Happy End, sondern ein Anfang.

Tatsächlich war die wesentliche Quelle des Selbstbewusstseins der Kinder vom Potsdamer Platz, dass sie nicht saturiert waren. Während ihre Eltern Ideale und (oder auch nur) Wohlstand hatten, was sie mindestens verteidigen mussten, wussten ihre Kinder, dass sie nur gewinnen konnten – wenngleich weder wie noch was. Daher waren sie für alles offen, sahen jede Veränderung als Geschenk, kosteten den Wandel aus und waren misstrauisch gegenüber allen, die ihn mies machten.

Bald tanzten sie auf allen Hochzeiten. Sie aßen Döner, der nur noch zwei Mark kostete, und ließen sich auf Baustellenfesten Champagner nachschenken. Zur Beschallung mit neuer deutscher Musik in verstecktesten Clubs konnten sie nicht oft genug den Kopf nicken – und ihn nur ebenso heftig schütteln, wenn ihre Vorkämpfer für sie feste Radioquoten forderten. Sie gingen auf Ostalgiepartys, bevor die so hießen, und registrierten dankbar, dass man hier einmal nicht damit protzen musste, was für tolle Sachen man denn so alles mache. In den am Gendarmenmarkt gewachsenen Glitzerfassaden spiegelte sich ihr Lächeln, vor allem nachdem sie festgestellt hatten, dass die „Neuen Eliten“, für die sie errichtet worden waren, sich darin noch viel unsicherer bewegten.

Für die Alteingesessenen, die sich vor Verdrängung fürchteten, hatten sie nicht viel Verständnis, ebensowenig wie für alle Wegelagerer – egal ob sie auf der Straße bettelten, gegen eine Schulstunde mehr demonstrierten oder Zeitungsabos erpressen wollten. Allen, die Berlin den Rücken kehrten, weinten sie keine Träne nach. Jenen, die hierher kamen, um es ihnen gleichzutun, reichten sie umso mehr die Hand. Dafür bekamen sie häufig sogar Kinder. Ihre Helden waren Gastgeber der großen Partys (sie selbst) oder der polnische Babysitter, der sich in der Stadt seine Existenz aufbaute.

Aus der Summe dieser Wahrnehmungen generierten die Kinder vom Potsdamer Platz ein Gefühl für Gesellschaft, das den gewohnten Interpretationsmustern zuwiderlief. Alle kulturpessimistischen Perspektiven, die vom Zerfall der urbanen Zusammengehörigkeit ausgingen, sahen sie durch die Springflut von Öffentlichkeit widerlegt, die sich durch die Stadt ergoss. Sie erlebten einen Gemeinschaftsgeist, der sich nicht mehr aus gleichen Interessen oder Idealen, Volkszugehörigkeit oder Vermögen speiste, sondern aus dem Lebensraum hervorging, in dem sie ihre Möglichkeiten fanden, sowie den Projekten, die sie darin miteinander machten. Dass mit der Identität des Hier und Jetzt zugleich die sozialen Disparitäten zunahmen, sahen sie wohl, nur erlebten sie diese als produktive Arbeitsteilung.

Tatsächlich scheint diese Ideologie geschmeidig genug, um Konflikte von vorneherein zu vermeiden. Eine Gelegenheit zum Aufbegehren bietet immerhin das Rückzugsszenario der Elterngeneration: Angesichts des dramatischen Bevölkerungsverlusts, der bald nicht bloß Ostdeutschland erfasst haben wird, beabsichtigt diese nicht etwa, Neubürger zu gewinnen, sondern nach den Arbeitsstätten auch Apartments in großer Zahl abzureißen. Offensichtlich will sie lieber in Ruhe ihre Rente verzehren, um dann mit ihrem Ideal der völkischen Wohlstandsgemeinschaft auszusterben, anstatt sich auf die Konflikte einzulassen, die Babys und Zuwanderer mit sich bringen. Dass es letztlich gegen ihre Kinder geht, können die Eltern vom Potsdamer Platz nicht akzeptieren.

Hans Wolfgang Hoffmann, 1970 in einem Kleinunternehmerhaushalt geboren, wuchs in Reinickendorf auf und studierte Architektur an der TU-Berlin. Seit 1995 schreibt er für diverse Tageszeitungen, Fach- und Populärmagazine über Stadtentwicklung. Er hat drei Kinder und lebt am Fernsehturm.

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