: Ein ruhiges Leben in der Stadt
Bei einer Familie in Burkina Faso: Durch immer engere Gassen und Pfade, vorbei an Wellblechhütten und Speichern an die Feuerstelle einer Großfamilie. Und plötzlich eingebunden in das verschlungene Netz der Verwandtschaftsbeziehungen
von ANDREAS KIRCHGÄSSNER
Ein Spalt Licht. Farbloses Weiß bricht durch die Fugen der Fensterläden. Meine Uhr zeigt sechs. Schließe schnell wieder die Augen. Höre das Stampfen. Das Stößeln im Mörser, rhythmisch. Suche den Schlaf auf der anderen Seite. Gedanken fallen im Takt der Stößel. Was war gestern? Ja, gestern. Wir waren in einem „Freiluftkino“, hatten einen indischen Liebesfilm ansehen wollen. Für 200 CFA – etwa 60 Pfennig – wurden die Bilder flackernd auf eine Hauswand geworfen. Der Film arabisch synchronisiert mit französischen Untertiteln. Schmalzlocke schmachtete nach Fräulein Mandelauge. Und die Blicke, die Fräulein Mandelauge Schmalzlocke schenkte, ließen uns vom ersten Augenblick an nicht im Unklaren über ihre Gefühle. Bösewicht aber, dem die Niedertracht ins Gesicht geschrieben war, dachte nicht daran, Fräulein Mandelauge, ihm bereits zugesprochen, an Schmalzlocke abzutreten. Er beanspruchte sie für sich, obschon ihre Abscheu vor ihm unverkennbar war. Und so schien Fräulein Mandelauges Schicksal besiegelt.
Währenddessen redete das ganze Publikum aufeinander ein. Jeder lieferte seine Interpretation, versuchte seine Simultanübersetzung, unterbrach für Schreie des Bedauerns, rief Ermahnungen an die Guten, verwünschte den Bösen. Die Leute riss es von den Bänken. Sie sprangen im Innenhof herum und diskutierten erregt. Es entstand ein Durcheinander, das es uns völlig unmöglich machte, der Handlung im Einzelnen zu folgen. Glücklicherweise war diese aber seit den ersten Szenen vollkommen absehbar. So konzentrierten wir uns auf die Zuschauer. Sie waren derart in den Film involviert, dass sie uns längst vergessen hatten. An einem kollektiven Aufatmen merkten wir endlich, dass es zu Ende ging. Schmalzlocke bekam Mandelauge, Bösewicht das, was er verdiente. Alles war gut.
Von diesem Erlebnis kehrten meine Frau und ich an den Hof zurück, den wir nun seit einer Woche bewohnen. Hier sahen wir sie sitzen. Ihre Arbeit trieb gemächlich dahin. Niemand zählte die Stunden. Da saßen die Frauen des Hofs, Töchter einer Mutter, sieben Töchter, saßen mit ihren Freundinnen, Cousinen, Verwandten vierten, fünften, sechsten Grades, saßen beisammen, nur Frauen. Sie stampften die Hirse, schnalzten mit der Zunge, lachten wie aufflatterndes Federvieh. Fluchten und schleuderten die Arme durch die Luft. Ganz nah beim Gelächter war der Streit. Und Streit war im Handumdrehen Gelächter.
Sie riefen uns heran, und wir setzten uns zu ihnen um die Glut. Schwere Körper, Stimmen, sich überschlagend. Einige wuschen nebenbei, andere stillten. Zwei rührten in Töpfen, die auf der Glut zwischen Steinen standen. Und dabei redeten sie unentwegt. „Je cherche un homme!“ (Ich suche einen Mann!) Oumou, die älteste Tochter am Hof, sah theatralisch in die Runde. Entrüstet stand sie auf. Hochgewachsen, breitschultrig, vierschrötig. Sie hob die Pagne und zeigte den Neugierigen ungeniert ihren Bauch, um den dünne Silber- und Goldkettchen lagen. „Tres cher!“ (Sehr teuer!) Vom Fetischmann auf dem Markt. Atemberaubende Aphrodisiaka angeblich. Leider aber seien die Männer entweder Trottel oder zu arm zum Heiraten. Und ihr Blick fiel auf mich. „Qu’est-ce qu’il y a avec lui?“ Oumou forderte von meiner Frau ein Angebot. Und quer über den Hof begannen Verhandlungen. Ob wenigstens die Tür zu unserer Hütte nachts offen bleiben könne, feilschte Oumou. Wie viel Platz in unserem Bett sei. Ein Gelächter jagte das nächste. Schamlos. Nichts zu fürchten. Der Lichtraum des Feuers befand sich in ihrer Hand. Ich lächelte zum Spiel, bei dem ich nichts zu melden hatte, vergrub meine Hände, wippte verlegen mit dem Oberkörper: seltsames Gefühl. Alles verkehrte sich. Der graue Alte von der anderen Straßenseite lachte sein zahnloses Lachen. Die Töchter der Nigrerin, die Kinder, die Bettelkinder, mitten in ihren Koranballaden innehaltend, alle lachten gestern Abend . . .
Ich wälze den Körper herum, bewundere meine Frau, die schläft, immer schlafen kann. Ganz entspannt. Nichts scheint sie anzufechten, in dieser Welt, in der es für uns nichts Selbstverständliches mehr gibt. Denke an den Tag, an dem Abi – die wir auf dem Markt kennen gelernt hatten – uns hierher brachte. Eine „ruhige Unterkunft in der Stadt“ hatte sie versprochen. In ihrer eigenen Familie. Sie leitete uns durch immer engere Gassen und Pfade, vorbei an Wellblechhütten und Speichern, die eher den Eindruck eines Dorfes machten als den der zweitgrößten Stadt Burkina Fasos.
Nach dem Morgen, an dem wir verzweifelt auf sie gewartet hatten, nach dem Nachmittag, als sie uns ohne jede Erklärung für ihre Verspätung abgeholt hatte, nach dem schier endlosen Manövrieren durch Bobo Dioulasso rief sie plötzlich: „C’est ici!“, und wies auf eine Lehmmauer.
Wir stiegen aus und betraten zum ersten Mal den Innenhof. Verließen die flirrende Staubluft und standen gleich an der Latrine, die Abi „Dusche“ nannte. Vier Wände ohne Überdachung, in der Mitte ein stinkendes Loch. Schillernde Fliegengeschwader stiegen darüber auf. Der Hof dahinter ein gestampfter Platz. Um ihn gruppiert wellblechgedeckte Lehmhütten. Zur einen Seite hockte eine große Frau – aus Niger, wie Abi sagte –, die, von ihren Töchtern umlagert, Hirse stampfte. Ihre Töchter riefen etwas und zeigten auf uns. Die Mutter aber wandte ihren Blick nicht vom Mörser.
In der Mitte des Hofs das Gerippe eines Citroën. Sie planen, erklärte uns Abi, ihn fahrbereit zu machen. Für mein Dafürhalten war er nichts als eine Halterung für die Wäscheleinen, an denen quer über den Hof Stoffe flatterten. Grelle Stoffe mit bizarren Mustern. Die Kulisse dahinter, in den Ecken, bestand aus Gerümpel. Wellblechreste, Schläuche, abgefahrene Reifen, morsche Holztüren, zerschlagene Mörser, alles, was noch einmal gebraucht werden könnte, dünstete modrig aus. Dazwischen wuchs Mais. Dann der Brunnen. Eine Bohle, eine Umlenkrolle, ein oft geknotetes Seil mit einem aus Reifen genähten Wasserschlauch daran. Das „fließende Wasser“, das Abi uns versprochen hatte. Tatsächlich sah ich auf acht Meter Aufweg Mengen von Wasser aus dem Schlauch fließen.
Die Reste, die oben ankamen, waren milchig trüb. Dem Brunnen gegenüber zeigte sie uns das Grab des Großvaters, den sie auf der Seite liegend mit Blick nach Osten beerdigt hatten. Hoffentlich nur weit genug vom Brunnen entfernt, dachte ich.
Aus einer Hütte kamen uns Alhassan und Ousseiny entgegen, Zwillinge, eineiig und nicht auseinander zu halten. Junge Kerle. Mir schien, als bewegten sie sich parallel. Wenn der eine lachte, war es das Lachen des anderen, oder das Nicken. Selbst wenn einer redete, war vollkommen austauschbar, wer von ihnen es war. Abi nannte sie ihre frères, sprach mit ihnen auf Dioula über uns, während die beiden uns wohlwollend beäugten.
Dann zeigten sie uns, was sie „unser Appartement“ nannten: Eine Baustelle voller Schutt und Unrat. Ohne Fenster und Türen. Aber gegen Vorschuss einer halben Monatsmiete sei morgen alles einzugsfertig. Wir zauderten zunächst. „Verleiht niemals Geld an Afrikaner . . .“, ging mir der Rat eines Entwicklungshelfers durch den Kopf, „dann verschenkt es lieber gleich!“ Schließlich gaben wir ihnen das Geld, denn es wurde bereits Abend. Seither gehören wir dazu, behaupten sie.
Ungelenk winde ich mich unter dem Moskitonetz hervor. Eine Art Häutung. Ertaste die Shorts, zerre sie meine klebenden Beine hoch. Ich sammle mich. Der Moment, bevor ich zum Allgemeingut werde, in ein Geflecht von Beziehungen und Gepflogenheiten gerate. Ich gebe mir einen Stoß und stemme die Tür auf. Ein Lichtmeer schlägt mir ins Gesicht. Die trockene Hitze kriecht in die Lunge. Gelächter und anerkennende Rufe empfangen mich. Ich neige meinen nackten Oberkörper zum Gruß vor, schutzlos. Murmele das Begrüßungsritual, das sie mir beigebracht haben: „Any sogoma!“ „Here sera?“, schallt es unisono zurück. „Here“, bedanke ich mich. „Somohodo?“, fragen sie nach meiner Familie. „Obej“, lüge ich, denn ich habe seit Monaten nichts mehr von meiner Familie gehört.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen