: Der Kleiderständer von Egon Krenz
Wenn Berlin träumt: Mit seiner choreographierten Lesung „REM-Phase III“ lässt das Theater zum westlichen Stadthirschen kleine Nachtgeschichten, notiert aus den Jahren von 1989 bis 2001, durch den Saal kullern
Dass nicht sündigt, wer schläft, behauptet der so genannte Volksmund. Dass im Schlaf aber die Träume mehr erzählen, als dem Träumenden zuweilen lieb sein kann, wissen wir aus wenigstens zwei Gründen. Den einen hat Hegel der Menschheit ins Geschichtsbuch geschrieben: Wer die Träume seiner Zeit hat, hat mit diesen die Zeit selbst. Der andere ist in dem kürzlich erschienenen Band „In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils“ von Rudolf Leonhardt nachzulesen: „Der Traum ist nicht deutbar, weil er keinen Sinn‚ hat; er hat keinen Sinn, denn er ist Gestalt.“
Gestalt werden sollen Träume auch in dem Theaterabend der freien Gruppe Ross/Tiefenenttrümmerung unter der Regie von Ingrid Hammer. Seit vier Jahren sammelt Hammer Berliner Träume und hat daraus drei Inszenierungen geschaffen. Angefangen hat das ambitionierte Projekt als szenische Lesung. Der erste Teil fand 2000 in den Sophiensaelen im Bühnenbild der Inszenierung „Schlafsaal“ von Holger Friedrich satt. Ein sinnvoller Ort, um über die nächtlichen Wiedergänger unserer selbst zu reflektieren. Nach dem Abstecher in den Lichthof des Rathauses Schöneberg ist die Trilogie jetzt wieder an seinen inszenatorischen Anfang zurückgekehrt: „REM-Phase III“ im Theater zum westlichen Stadthirschen ist mehr eine choreographierte Lesung als ein dramaturgisch gestalteter Theaterabend.
Das Publikum sitzt in einem Wald von Stahlrohren unter dem unerbittlichen Licht mehrerer Neonröhren. Auf den lose verteilten Stühlen haben auch die sieben Darsteller Platz genommen und beginnen unvermittelt, aber bestimmt, am laufenden Band Berliner Nachtträume aus den Jahren 1989 bis 2001 zu erzählen. Es sind welche von der blinden Oma am Ofen, dem Kleiderständer von Egon Krenz oder Rolf, der sich im Tiergarten erwürgt. Es sind erträumte Geschichten, die von ihrer Surrealität oder Hyperrealität, von ihrem enigmatischen Fragmentcharakter und vielschichtigen Symbolstruktur leben – Wegmarken vom Rande des flackernden Bewusstsein. Immer auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit.
Szenisch ist der Seiltanz dieser ausgefransten Subjektpartikel allerdings nur spärlich unterfüttert: Mal schleppen die halbwachen Traumträger Stühle durch die Menge, mal schweben und schwimmen sie scheinbar durch die Luft. Es sollen Chiffren, keine Figuren sein. Entsprechend werden Typen gezeigt, aber manchmal dennoch Charaktere gespielt. Genau daran zerfällt der Abend: Außer Stephan Korves und Peter Beck hat keiner der Darsteller die nötige Präsenz und Präzision, ihr Spielmaterial über sich selbst hinausweisen zu lassen.
Helfen soll allen die satten Beats von Helmut Erler und Michael Wolf. Aber wie die Gestik kommt auch die Musik über Kommentierung nicht hinaus. Ein inszenatorischer Schlüssel wurde leider nicht gefunden, auch wenn die Minigeschichten heiter oder garstig, komisch oder böse durch den Abend kullern. Und wenn Hegels Satz über die Aussagekraft der Träume stimmt, dann wissen wir: Unsere Zeit ist gerade so hilf- und orientierungslos, wie sie einem auch im Wachzustand entgegentritt.
DIRK PILZ
Bis zum 24. Februar, Fr. bis So. 20.30 Uhr, Theater zum westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstr. 37, Kreuzberg
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