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schafe zählen nicht von RALF SOTSCHECK

Wer einmal ein Zimmer mit John geteilt hat, wird die Nacht so schnell nicht vergessen. Er schnarcht. Aber nicht etwa auf eine gleichmäßige, beruhigende Art, wie ich es tue, sondern er variiert Lautstärke, Melodie und Rhythmus. Manchmal hört er ganz auf zu atmen, und dann setzt seine Atmung mit einem Grunzen wieder ein, das einer Herde Wildschweine alle Ehre machen würde. Seine Frau Anne hat ihn auf die Couch im Wohnzimmer verbannt.

Einmal übernachteten John und ich in einem Hotel an der irischen Westküste. Beim Frühstück am nächsten Morgen konnte man am Zerschlagenheitsgrad und an der Schattierung der Ringe unter den Augen der anderen Gäste messen, in welcher Entfernung ihr Zimmer von unserem lag. Dass John – und nicht ich – der nächtliche Rowdy war, sah man meinem Zustand an. Einige Gäste erkundigten sich bei mir, wie lange wir bleiben würden.

„Schlafapnoe“ nennt man diese Krankheit, und sie ist für den Betroffenen noch unangenehmer als für die Umwelt. Trotz des scheinbaren Kreissägentiefschlafs ist John tagsüber ständig müde und nickt manchmal mitten im Gespräch ein. Er hat ein Kurzzeitgedächtnis wie ein Goldfisch. Einmal wollte er mir seine Urlaubsfotos innerhalb einer Stunde dreimal zeigen. Seit einer Woche ist jedoch alles anders. John hat sich untersuchen lassen und ein Beatmungsgerät verschrieben bekommen. Es hat einen zwei Meter langen Rüssel für die Sauerstoffzufuhr, er stülpt es sich vor dem Zubettgehen über die Nase und zurrt es mit Gurten hinter dem Kopf und am Kinn fest. Wenn er es in die Steckdose einstöpselt, pumpt es regelmäßig Luft in seine Lungen. John schläft seitdem wie ein Neugeborenes. Anne ließ ihn auf Bewährung wieder ins eheliche Schlafzimmer, doch sie fand das leise Surren der Beatmungsmaschine höchst irritierend. Sie versuchte es mit der klassischen Methode: Schafe zählen. Das funktionierte nicht, denn seit der Maul- und Klauenseuche gehen die Tiere bei ihr stets in Flammen auf.

Inzwischen weiß sie, dass die Methode auch ohne die Seuche zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Psychologen in Oxford haben für eine Untersuchung 50 Versuchspersonen in drei Gruppen eingeteilt. Die erste sollte Southdown-Mutterschafe oder Merinolämmchen zählen, die über einen Zaun springen. Die zweite Gruppe sollte sich Wasserfälle vorstellen, die letzte sollte an gar nichts denken. Ergebnis war, dass die Wasserfallgruppe im Durchschnitt 20 Minuten früher einschlief als die anderen.

Bei dem Thema geht es um viel Geld. Schlaflosigkeit ist ein Albtraum: 20 Prozent aller Autounfälle sind auf Übermüdung zurückzuführen. In den USA betragen die Kosten, die durch Krankheiten und Unfälle infolge von Insomnia verursacht werden, 35 Milliarden Dollar im Jahr. Dieses Vermögen könnte man einsparen, indem man den Schlaflosen dieser Welt verordnet, an Wasserfälle zu denken, wenn die Wissenschaftler aus Oxford Recht haben. Wie viele der Versuchspersonen bei der Vorstellung von rauschendem Wasser ins Bett machten, gaben sie nicht bekannt.

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