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Die Vollblutstraße

Wer als Taxifahrer Ecken fährt und es schafft, die Kantstraße zu ignorieren, der kann so einige schöne Geschichten aus dem Rotlichtmilieu am Stuttgarter Platz hören

„Fahren Sie auch Ecken?“ Offenbar fuhr mein Kollege keine. Oder er verstand die Frage einfach nicht. Ich verstand sie selber nicht, tat aber so als ob und bekam den Auftrag. Eine ältere Dame. Sie wollte schön weit. „Schön weit“ ist oft relativ, aber für mich bedeutete es Glück und Geld. Wie gut, dass ich auch Ecken fuhr! In Gedanken pries ich die Umsicht meines Chefs, der beim Kauf des Taxis auf das Lenkrad geachtet hatte. „Soll ich nachher über die Kantstraße fahren?“, wollte ich wissen. Wie geschildert, wäre mir das bauartbedingt mehr als ein Leichtes gewesen. Die Frau schwieg.

Als ich mich anschickte, die Kantstraße anzusteuern, weil ich immer über Kantstraße fuhr, bat die Dame: „Fahren Sie bitte geradeaus, dann rechts in die Leibniz- und von dort links in die Bismarckstraße.“ „Über Kantstraße is’ aber kürzer“, gab ich zu bedenken. „Glaube ich nicht“, meinte die Kundin, „und wenn – ich mag die Kantstraße nicht: eine furchtbare Straße!“

Ich fuhr also geradeaus und bog dann in die Leibnizstraße ein. Leibniz-/Ecke Kantstraße machte ich Anstalten, nach links in die Kantstraße abzubiegen. Ganz automatisch – ich fuhr immer über Kantstraße. „Hier noch nicht“, schrie es von hinten, „erst an der Bismarckstraße!“ – „Oh sorry“, entschuldigte ich mich, „war ganz automatisch – ich fahr immer über Kantstraße …“

„Sie mögen die Kantstraße?“

„Oh ja“, schwärmte ich.

Die Kantstraße war für mich der Inbegriff einer Straße. Eine rassige Vollblutstraße. Alles was eine Straße in meinen Augen besitzen musste, hatte diese Superstraße im Übermaß: Häuser, Autos, Menschen, Straßenbelag. Ich liebte die Kantstraße!

„Ich hasse die Kantstraße“, sagte die Frau mit einem Zittern in der Stimme, „die Kantstraße ist die schrecklichste Straße, die ich kenne.“ Ich hatte mit letzter Kraft die Kurve noch gekriegt und war weiter auf der Leibnizstraße unterwegs. Richtung Bismarckstraße. „Sie verbinden sicher unangenehme Erinnerungen mit der Kantstraße“, äußerte ich einen frischen Verdacht. Sie sprach nicht.

Das war auch nicht nötig, denn an ihrer Stelle sprachen mein Scharfsinn und meine Menschenkenntnis für sie und erzählten mir die traurige Geschichte ihres Lebens: „Es war ein wunderschöner Frühlingstag vor vierzig Jahren, ein Tag so wie heute. Ich ging mit meinem Vater die Kantstraße entlang. Wir aßen Gummibärchen aus einer Tüte. Als er sich gerade ein Gummibärchen in den Mund stecken wollte, kam eine Hand aus einem Hauseingang. Die Hand hielt eine Pistole. Die Pistole schoss. Dann ließ die Hand die Pistole fallen, ergriff das Gummibärchen und rannte zusammen mit einem Körper weg. Vater war tot. Man hatte ihn erschossen. Wegen eines Gummibärchens!“

„Oh nein!“

„Oh ja!

„Das tut mir Leid …“

„Klappe! Schließlich eines Tages vor zehn Jahren: Ich wollte eigentlich schon nicht mehr durch die Kantstraße gehen …“

„Das verstehe ich …“

„Nichts verstehen Sie! Ich ging also mit meinem Sohn durch die Kantstraße, und – was soll ich sagen: ermordet!“

„Wegen dreier Gummibärchen?“

„So ähnlich: Es ging um die Vorherrschaft im Rotlichtmilieu am Stuttgarter Platz sowie zehn Millionen in bar. Sie können sich jetzt vorstellen, dass ich die Kantstraße nicht mag?“

Ja, das konnte ich. Ich dankte meinem Scharfsinn und meiner Menschenkenntnis dafür. „Fahren Sie auch Ecken?“, fragte die Funkzentrale den Kollegen: keine Antwort. ULI HANNEMANN

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