Vom Nutzen der Gräuel des Krieges

Im Weddinger Antikriegsmuseum können Schüler dem Schrecken des Krieges ins Gesicht schauen. Das 1925 von Ernst Friedrich gegründete Museum wurde vor zwanzig Jahren von seinem Enkel wiedereröffnet

von ANETT KELLER

Ein grauer, verregneter Morgen im Wedding. Die neunte Klasse der Martin-Luther-Gesamtschule, zehn Jungen und neun Mädchen, haben sich samst ihrer Lehrerin im wohnzimmergroßen Ausstellungsraum des Antikriegsmuseums platziert. Zwanzig Rollkragen- und Kapuzenpulliträger rutschen auf ihren Stühlen hin und her, schwatzen durcheinander, bis Museumsleiter Tommy Spree eine Blondbezopfte zur Lichtassistentin ernennt. Der Raum verdunkelt sich und Tommy Spree beginnt, die Geschichte des Museums – eine Antikriegsgeschichte – zu erzählen.

Die Gräuel des Ersten Weltkrieges hatten seinen Großvater, den Berliner Schauspieler Ernst Friedrich, 1925 zum Pazifisten und Gründer des weltweit ersten Antikriegsmuseums gemacht. Die Dias von winkenden Frauen neben schmucken Offizieren, die Spree nun zeigt, stammen aus jener Zeit.

„Die Deutschen dachten, das wird ein Spaziergang“, beschreibt Spree die damalige Kriegsbegeisterung. Nach vier Jahren, so Spree, „fehlte in jeder Berliner Familie ein Vater, ein Sohn, ein Onkel“. Wer lebendig zurückkehrte, tat dies oft um den Preis eines Beines, eines Armes oder – im Falle des Soldaten, dessen Bild Spree jetzt zeigt, um den Preis des halben Kopfes.

Ein Soldat, kaum älter als die anwesenden SchülerInnen, schaut in die Kamera. Stirn, Augen und Nase sind das Einzige, was von seinem Gesicht übrig blieben. Wo früher Mund und Kinn waren, klafft ein großes zermatschtes Etwas. Ein ekelerregter Laut dringt aus einigen Kehlen, ein paar der Jugendlichen halten sich die Hand vors Gesicht.

Museumsgründer Ernst Friedrich hatte nach dem Ersten Weltkrieg Bilder wie diese gesammelt und ausgestellt. Das brachte ihm während der Weimarer Republik unter anderem 13 Verurteilungen ein. Doch Friedrich setzte seine Arbeit unbeirrt fort, las Dostojewski und Tolstoi vor ausverkauften Hallen, gründete eine „grüne“ Kommune vor den Toren Berlins, gab ein pazifistisches Lesebuch heraus.

„Wie schaffte der das, dass ihm alle zugehört haben?“, fragt einer der Jungs etwas verzagt in diesen Raum, wo die Geschichte aus allen Ritzen gekrochen kommt. Zwischen den Fenstern hängt das „Nie wieder Krieg!“-Plakat von Käthe Kollwitz. „Alle waren es sicher nicht, aber“ – so schmunzelt Friedrich-Enkel Tommy Spree nicht ohne Stolz – „er wusste sich schon in Szene zu setzen.“

Ein Motiv, das Friedrichs Werk durchzieht, ist der Kampf gegen kriegsverherrlichendes Spielzeug. Ein Gräuel waren ihm hölzerne Soldaten unterm Weihnachtsbaum. „Mal ehrlich“, sagt Spree, „heute heißt das doch nur anders, wer spielt denn von euch ‚Counter-Strike‘ und ‚Terminator‘?“ Einer zeigt grinsend auf seinen Strickmütze und Zahnspange tragenden Nachbarn. Nach einigem Zögern gehen nach und nach zehn Zeigefinger hoch – allesamt männlich.

Immer wieder versucht Spree, die Brücke zu einer Vergangenheit zu schlagen, die die Kids, wenn überhaupt, nur aus den Erzählungen ihrer Großeltern kennen. Die schwere Eisentür des „Original-Luftschutzkellers“ schlägt zu, der dumpfe Hall klingt aus und endet in beklemmendem Schweigen. Aus kleinen Lautsprechern dringen Sirenen an die Ohren der Schüler, eine Radiomeldung aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges. „Achtung, Achtung!“ Während der Sprecher die Flugroute der Bomberverbände durchgibt, beginnt Spree zu erzählen. Von Bombennächten in Berlin, über vierhundert Angriffe waren es, eine Berlinerin hat jeden einzelnen auf einer Tür aufgelistet, die im Keller an der Wand lehnt. Von der Platzangst, die sich breit machte, wenn statt 30 über 100 Menschen im Keller hockten. Von den Erstickten, die später auf den Straßen zu großen Haufen aufgetürmt wurden. Seine Erzählungen ernten fassungslose Blicke aus großen Augen und manchmal Kopfschütteln – als hätte die Klasse so etwas noch nie gehört.

Ob es damals im Krieg auch so kalt gewesen sei, fragt eine. Wo denn in den Kellern die Toiletten gewesen wären, ein anderer. Und während Spree von Gasangriffen erzählt, verteilt ein Mädchen Schokoeier. Dennoch: Sprees Botschaft kommt an. Betroffen schleicht die Klasse vorbei an den Bildern von Hiroschima, die schmale Treppe zurück nach oben.

„Wir wollten gar nicht hierher“, gestehen die meisten später. Jetzt sind alle froh, dass sie da waren. „Gut, dass es hier so viele alte Sachen gibt, wir können uns das doch gar nicht mehr so richtig vorstellen“, sagt Julia. Ihre Großeltern wollen nicht mit ihr über den Krieg sprechen. Nadine sagt, sie diskutiere in diesen Tagen mit Freunden viel über den drohenden Irakkrieg. „Klar ist das weit weg, aber ich weiß doch, dass da Menschen sterben.“ Der Weit-weg-Krieg sorgt in den Köpfen der 15-Jährigen vor allem für die Angst, er könne sich zum Dritten Weltkrieg ausweiten. Außer Resignation können ihm die meisten hier nichts entgegensetzen. An einer der Friedensdemos teilgenommen haben von der Klasse nur Edgar und Steffi.

Steffi hat den Wandertag ins Antikriegsmuseum durchgeboxt – und organisiert. „Die anderen wollen immer Sport machen“, erklärt sie den Widerstand ihrer MitschülerInnen. „Aber das Museum passt so gut in unsere Zeit, man muss doch aufklären wie es wirklich war.“ Vor allem weil Rechtsextremismus „so krass verbreitet“ sei – auch an der eigenen Schule.

Dass die Reise in die Vergangenheit nun so gut angekommen sei, darüber freut sie sich. Und hofft, dass weitere Exkursionen dieser Art nun eine bessere Chance haben. „Unterschriften sammeln müsste man“, sprudelt Edgar hervor. „Die ganze Schule müsste zur Demo gehen“, wünscht sich Steffi. So war es, als sie noch am Camille-Claudel-Gymnasium war. „Da wurde so viel diskutiert, das war ’ne richtig schöne Schule!“ Dass es nun anders sei, liege nicht an den Lehrern, sagt sie. Die hätten das Potenzial, müssten sich aber noch mehr gegen die Resignation der Schüler durchsetzen. „Die sind so uninteressiert, denen ist sogar egal, was mit ihrer eigenen Zukunft wird“, sagt Steffi.

„Wenn du was für den Frieden tun willst, arbeite mit den Jungen, die Alten änderst du nicht mehr.“ Das Motto seines Großvaters ist das Leitmotiv von Museumsleiter Tommy Spree. Hunderte Male vor tausenden Schülern hat er diesen Vortrag schon gehalten, seit das Museum vor über zwanzig Jahren wieder öffnete. Vom unerschütterlichen Optimismus getrieben, dass „die Menschheit eines Tages lernen wird, alle Konflikte friedlich zu lösen“. Manchmal, wenn er zum Beispiel den SchülerInnen zum Abschied den Kauf der „Ernst-Friedrich-Brosche“ mit dem zerbrochenen Gewehr nahe legt, wirkt er ein bisschen, wie nicht von dieser Welt.

Romy Stauch, die zwanzigjährige Praktikantin, bewundert die Kraft und die Besessenheit, die ihr Chef in sein „kleines Museum mit großer Botschaft“ steckt. Noch wichtiger als den Blick auf vergilbte Fotos findet sie aber die Frage, was Krieg heute für uns bedeutet. Bekäme sie einen Raum, sie würde zeigen wollen, was Frieden bewirken kann. Neben dem Schrecken müsse es auch Motivation geben, „es gibt schließlich schon zu viele Hoffnungslose“. Wie sich das visualisieren ließe? Romy kommt auf eine Idee von Museumsgründer Ernst Friedrich zurück. Der hatte einst Stahlhelme zu Blumentöpfen umfunktioniert.