Adrian, elektrisch

Der Thomas Mann der Suchmaschine: Lorenz Schröters „Lucy“ ist ein Bildungsroman für das 21. Jahrhundert

Auf den ersten Blick ist Lucy ein ganz normales Mädchen, groß und hübsch. Sie hat gerade ihr Abitur gemacht und zieht jetzt in die Stadt. Die drängenden Fragen nach ihrem Ziel im Leben beantwortet sie etwas hilflos mit einem Schulterzucken: Weiß noch nicht.

Weil sie aber selbst noch nichts ist und doch einmal alles werden könnte und weil sie jung ist und gut aussieht, wirkt sie auf den zweiten Blick inspirierend auf die Menschen in ihrer Umgebung. Wer mit ihr umgeht, bekommt unwillkürlich neuen kreativen Mut, Ideen sprießen und Pläne reifen. Früher nannte man so jemanden eine Muse. Das kommt vor allem ihrem ersten Bekannten zugute, dem Setzer elektronischer Töne Adrian, den sie aus seiner Verzweiflung an der zeitgenössischen E-Musik herausholt. Dieser Anhänger des von Lorenz Schröter eigens für seinen neuen Roman „Lucy“ erfundenen Laszloismus wird aus erotischem Schmerz eine neue Oper gebären.

Lucys Zeit bei den Komponisten ist nur der erste Schritt auf ihrem eigenen Bildungsweg, und so finden wir sie im zweiten Teil unter den Brückenbauern. Den virtuellen, wohlgemerkt, denn Lucy heuert in einem papier- und kabellosen Büro an. Der Laptop simuliert die gewagten Brückenkonstruktionen und dazu gleich die Naturgewalten, die an ihnen rütteln, sowie den Verkehr, der sie zum Erzittern bringt. Die Umsetzung der digitalen Visionen, die vom finanziellen Go eines Innereien verzehrenden Japaners abhängt, der nur in Haikus spricht, gestaltet sich schließlich ganz anders als erwartet. Und das, obwohl Lucy mit ihm so etwas wie eine Beziehung eingeht. Doch wenn es zur Sache gehen soll mit Lucy, dann läuft nichts bei den Männern.

Grund genug, um in den Dschungel zu gehen, und so wird Lucy im letzten Teil zur Affenforscherin. In dieser Eigenschaft lebt sie am Rand einer Buddenbrook’schen Großfamilie von Bonobos, zuerst nur als Beobachter, doch bald schon wird sie sich entscheiden müssen, ob sie endlich einmal tatsächlich und nicht nur virtuell mit ihrer Umwelt in Kontakt treten will.

So wie die Titelheldin ist auch der Roman „Lucy“ ein Resonanzkörper, der sich entlang der Grenze zwischen dem analogen und digitalen Zeitalter bewegt. Schröter webt ein enorm dichtes Netz aus Anspielungen, Querverweisen und Leitmotiven, die seinen Text auf vielfältige Weise zum Klingen bringen. Da ist die Symbolik der Musen, gibt es Referenzen an Thomas Mann, und auch der Name Lucy ist nicht zufällig gewählt, wurde doch das älteste bekannte menschliche Skelett auf denselben Namen getauft. Das mag anspruchsvoll oder gar anstrengend klingen, doch Schröters Konstruktion funktioniert anscheinend schwerelos, weil sie solide gebaut ist und durch einen enormen Sprachwitz unterstützt wird.

„Lucy“ ist ein Roman des 21. Jahrhunderts, in dem die Suchmaschine Google unser Verständnis von Wissen zunehmend verändert. Schon heute hat sie den Namen einer neuen literarischen Gattung geprägt: Lorenz Schröter nennt sein Werk einen „Google-Bildungsroman“, und er ist genau das, die exemplarische Geschichte vom Leben und Schreiben in einer vernetzten und globalisierten Welt. Dass diese Geschichte so lesbar und amüsant ist, mag Hoffnung geben. Nicht zuletzt für die Literatur. SEBASTIAN DOMSCH

Lorenz Schröter: „Lucy“. Hamburg,Rotbuch 2002, 247 S., 18,90 €