piwik no script img

Big Brother im Avantgarde-Refugium

Künstlerförderung im Versuchslabor ist auch kein Spaß: Alex Novak inszeniert für das Stuttgarter Staatsschauspiel die Uraufführung von Kerstin Spechts Theaterstück „Solitude“ in der gleichnamigen Stipendiaten-Akademie

Solitude – so nannte der württembergische Herzog Carl Eugen einst sein schmuckes Lustschloss, hoch auf den Hügeln von Stuttgart gelegen. Seit mehr als zehn Jahren residiert im rechten Flügel des Barockbaus die Stipendiaten-Akademie Schloss Solitude, eine international renommierte Einrichtung zur Förderung junger Künstler aller Sparten, auf dass hier droben, fernab vom Treiben der Stadt und unbelastet durch finanzielle Zwänge, der Geist die nötige Freiheit finde für künstlerische Inspiration.

Solitude, Einsamkeit – das ist in Kerstin Spechts gleichnamigem Stück ein innerer Zustand, eine eigene Welt. Fünf junge Künstler, gefördert vom Staat, versammelt die Autorin darin in einem abgeschiedenen Barockschloss. Ähnlichkeiten mit der realen Akademie in Stuttgart, wo die 1956 geborene Dramatikerin Anfang der 90er selbst als Stipendiatin weilte, sind nicht Programm, aber auch nicht ganz zufällig. Am Stuttgarter Staatsschaupiel fand jetzt die Uraufführung von „Solitude“ statt mit der Akademie Schloss Solitude als Koproduzenten und Ort der Aufführung.

Betrachtet man Kerstin Spechts Stück, dann ist es um die Kunst im Allgemeinen und die Früchte der Jungkünstlerförderung insbesondere nicht gut bestellt. Die Schriftstellerin Anabel, der bildende Künstler Iwan, der Selbstmordkünstler Wieland, die Musikerin Anja und Lie, die Neue im Bund: Sie alle vereint die Erfolglosigkeit. Kreativer Output – Fehlanzeige. Stattdessen: Blockaden, Frust, Sinnkrise. Zudem ist die vermeintliche künstlerische Elite selbst Teil eines mysteriösen Experiments. Rund um die Uhr beobachtet von Videokameras, lebt das Quintett der Loser seine Ängste, Träume, Aggressionen und Sehnsüchte vor den Augen der Öffentlichkeit aus. Big Brother im Avantgarde-Refugium sozusagen.

Die Idee ist auf der Theaterbühne nicht neu. Auch Falk Richter lässt in seinem Stück „Gott ist ein DJ“ ein junges Paar seine Beziehung als per Kamera dokumentiertes Kunstexperiment führen. Aber Kerstin Specht spitzt in „Solitude“ die Situation radikal zu. Das Dasein der Künstler wird hier selbst zur Kunstperformance, zum kreativen Prozess. Künstlichkeit und Leben, Fiktion und Realität verschwimmen ineinander.

Der Regisseur Alex Novak betont den Kunstcharakter des Geschehens, indem er die Regieanweisungen der Autorin, die eine Ansiedelung der Handlung im Konkreten zumindest denkbar machen, fast komplett ignoriert. Seine Inszenierung arbeitet mehr mit den Mitteln einer Kunstinstallation als mit denen des Theaters. Auf einer leeren weißen Fläche lässt er seine Versuchsanordnung spielen. Einige Wollknäule, Masken, ein Kunstblumenstrauß, ein Paar Moonboots und ein kleiner Videomonitor stellen die einzigen Requisiten dar.

Ein steriles Szenario, eine Art Labor kreiert Novak so, in dem paradoxerweise ein im Stück nur als Statue vorgesehener Sänger am ehesten Leben gewinnt. Novak hat seinen fünf Protagonisten einen Countertenor zur Seite gestellt. Dieser begleitet und konterkariert mit seinen klagenden Liedern das Beziehungsgeflecht der Künstler. Ein sinnfälliges Bild hat Alex Novak damit gefunden, um das Ineinanderfließen von Kunst und Leben anschaulich zu machen.

Sein Regiekonzept wird gestützt vom Bühnenbild der japanischen Installationskünstlerin und Solitude-Stipendiatin Chiharu Shiota. Diese hat einen die ganze Decke überwuchernden Baum aus schwarzen Wollfäden in die Mitte des ganz in Weiß gehaltenen Raums gestellt. In diesem strengen Kunstraum tobt nun das zunehmend aus den Fugen geratende Beziehungswirrwarr der Protagonisten. Für die schüchterne Lie, die ihren Frust herausschreiende Anja, den Möchtegern-Casanova Iwan, die coole Anabel und den grüblerischen, sich in Schweigen hüllenden Wieland endet die Suche nach ihrer Identität als Mensch und Künstler im Desaster.

Kerstin Specht hat mit ihrem sprachgewaltigen, mit surrealen, fast lyrischen langen Monologen und knappen, absurden Dialogen gespickten Text eine ambitionierte Innenansicht künstlerischen Schaffens vorgelegt und eine Satire auf den modernen Kunstbetrieb gleich mitgeliefert. Allein die Reflexion bleibt zu sehr Nabelschau, um einen Transfer ins Allgemeine leisten zu können. So beobachtet der Zuschauer eher mit ungläubigem Staunen das Treiben auf der Bühne. Ein distanzierter Beobachter. Fast wie das Auge der Videokamera. CLAUDIA GASS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen